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Die Geschichte des Dragoljub Milanović
05.08.2011 | 15:30 | Von Peter Handke (Die Presse)
Der vergessene Gefangene oder: Der Fall des Serben Dragoljub Milanović, der nach einem absurden Gerichtsurteil seit bald zehn Jahren in einem Gefängnis nahe Belgrad sitzt.
Es ist hier eine Geschichte zu erzählen. Nur weiß ich nicht, wem. Mir scheint, es gebe keinen Adressatenfür diese Geschichte, jedenfalls nicht in der Mehrzahl, und nicht einmal in der Einzahl. Mir ist auch, es sei zu spät, sie zu erzählen; der Zeitpunkt verpaßt. Und trotzdem ist es eine dringende Geschichte. Der Meister Eckhart spricht einmal von seinem Bedürfnis zu predigen, das so stark sei, daß er, fände er für seine Predigt kein Gegenüber, seine Predigt – wenn ich mich recht erinnere – notfalls auch an einen „Opferstock“richten würde. Hier handelt es sich um keine Predigt, sondern, wie gesagt, um eine Geschichte. Aber auch die wäre notfalls einem Holzstoß oder einem leeren Schneckenhaus zu erzählen oder gar, wie im übrigen nicht zum ersten Male, mir hier ganz allein.
Es ist die Geschichte des Dragoljub Milanović, des ehemaligen Direktors von RTS (Radio-Televizija Srbije), dem serbischen Radio und Fernsehen. Seit neun Jahren ist er Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes, wegen des nächtlichen Bombenbeschusses der Nato auf die TV-Anstalt am 23. April 1999, etwa vier Wochen nach Beginn desKrieges gegen den Staat, welcher damalsnoch „Bundesrepublik Jugoslawien“ hieß:16 tote Angestellte des Senders, und ebensoviele Verletzte.
Dragoljub Milanović ist bis heute die einzige Person, die für die Ereignisse des Kriegesder „Nordatlantischen Verteidigungsorganisation“ gegen Jugoslawien – eines Krieges, derbei den unvermeidlichen Siegern, und inzwischen nicht nur bei diesen, sondern auch in der Terminologie der offiziellen westlichen Geschichtsschreibung, den Namen „Intervention im Kosovo“ trägt –, Dragoljub Milanović ist bis heute die einzige Person, die als Folge jener Intervention im Kosovo angeklagt, verurteilt (beides von der Staatsanwaltschaft und von einem Gericht seines eigenen,von den Westmächten besiegten Landes) undfür fast zehn Jahre eingesperrt worden ist.
Zwar haben die Angehörigen der Opfer der nächtlichen Bombe auf das staatlicheserbische Fernsehgebäude beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg einen Prozeß gegen die Täter beantragt. Aber das Gericht hat sich umgehend für unzuständig erklärt; als Gerichtshof für Menschenrechte sei es zuständig einzig für Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Territorien der dessen verdächtigten Staaten; und da dieBombe in einem anderen Land, also exterritorial, getötet habe, komme der Europäische Gerichtshof für einen Prozeß nicht in Frage (oder so ähnlich).
Ebenso entschied dann ein Jahr später das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag, daß die „Fehler“ der Nato bei deren Intervention im Kosovo, wozu der Angriff auf das Belgrader Fernsehen gehört habe (oder so ähnlich), keine Kriegsverbrechen seien. Dem-
Dragoljub Milanović: verantwortlichfür die 16 Toten in der TV-Anstalt?
nach war für die Geschehnisse der Nachtdes 23. April 1999 auch in Holland der Prozeßweg ausgeschlossen.
Dafür wurde, zwei Jahre nach der Bombeauf das serbische Fernsehen, dessen – inzwischen ehemaligem – Direktor, als dem Verantwortlichen für die 16 Toten und die ebenso vielen Verletzten, von einem Belgrader Distriktsgericht der Prozeß gemacht. Dieses Verfahren, so ausdrücklich das Tribunal, sei vollkommen unabhängig zu führen von demKrieg, welcher „zur Tatzeit“ Tag und (vor allem) Nacht aus 5000 Meter Höhe gegen das Land im Gange war, und habe vor allem nichts zu schaffen mit irgendwelchen etwaigen Kriegsverbrechen der Bombenzentrale im fernen Brüssel. Es wurde einzig verhandeltgegen Dragoljub Milanović, den Mann, dem vorgeworfen wurde, für seine ihm untergebenen Angestellten, fahrlässig oder womöglich gar absichtlich, die nötigen Sicherheitsvorkehrungen versäumt zu haben. Für einen solchen Tatbestand fand sich der entsprechendeParagraph im Strafgesetzbuch der Republik Serbien. (Zu all den Zahlen in dieser Geschichte noch § 194, Absatz 1 und 2.) Verstehtsich wieder, daß auch Paragraph samt Tatbestand im Prozeß unabhängig davon zu betrachten waren, ob zur Tatzeit Krieg herrschte oder was für eine Art von Krieg. Devise: Ein Hirngespinst, wenn es amtlich wird und Arm der Macht, findet immer einen Gesetzesparagraphen, welcher es auf die Sprünge bringt – es realisiert; mit anderen Worten: in den Schein eines Rechts setzt.
Der hauptsächliche Schuldbeweis gegen den einstigen Fernsehdirektor: ein Zettel miteiner Anweisung von der ihm übergeordneten staatlichen Stelle, den Sender samt dessenMitarbeitern von seinem Standort mitten in der – da noch bundesjugoslawischen – Haupt-stadt „auszulagern“. Es sei nicht auszuschließen, daß der Sender (obwohl, nach Genfer und sonstwelcher Konvention, ein „ziviles Objekt“ und als solches von Kriegshandlungen zu verschonen) zum Bombenziel, zum „target“, bestimmt werde.
Diese Anweisung, ein Zettel ohne Herkunftssignum, anonym, ohne Unterschrift,auch ohne die Unterschrift des Adressaten Milanović, mit der dieser sämtliche Anweisungen der ihm übergeordneten Stelle in jenen Monaten zur Kenntnis genommen hatte,genügte dem Gericht für den Schuldspruch. Dabei handelte es sich nicht einmal um eine regelrechte „Anweisung“. Diese war so gehalten,daß es dem Angewiesenen, also dem Direktor, freistand, auch eine Entscheidung gegen das Verlagern des Senders (ob in eine Berghöhle oder einen Tunnel) zu treffen. Der anonyme, irgendwie auf irgendwelches Papier getippte Zettel war stattdessen groß begleitet von einer Zahl, der Zahl 37 (wieder eine Zahl).
Gab es aber nicht Anzeichen, die denDragoljub Milanović zu einem Verlagern desSenders unter dem Bombenhimmel hätten bewegen können, oder gar müssen, und zwaraus Eigenem, ohne jene obskure Anweisung? Hatte denn nicht schon nach den ersten ein, zwei Bombenwochen einer der Fernkrieger, der englische Premierminister Anthony „To- ny“ Blair, welcher verlautbarte, daß solche Stationen „Teil des diktatorischen Apparats ... sind, ... benutzt, um die ethnischen Säuberungen im Kosovo zu betreiben“, dazu lautgedacht, „diese staatlich kontrollierten Medien“ seien ein „richtiges und berechtigtes Ziel“? Und hatte nicht ebenso der Präsident der Vereinigten Staaten, William „Bill“ Clinton, zu verstehen gegeben, das serbische Fernsehen werde benutzt „für die Verbreitung von Haß und Desinformation“ und sei kein „Medium im überkommenen Sinn“?
Die Geschichte des Dragoljub Milanović ist schon öfter erzählt worden, ausführlicher,zum Beispiel von der deutschen Publizistin Daniela Dahn in einem Kapitel ihres Buches „Wehe dem Sieger!“, völkerrechtlich betrachtet und juristisch gestützt zum Beispiel von der kanadischen Advokatin Tiphaine Dickson, welche belegt hat, daß das serbische staatliche Fernsehen selbst in den bomben-
Anklagepunkt: Milanović hätte den Fernsehsender „auslagern“ müssen
intensiven Tagen und Nächten des Nato-Krieges keinen einzigen Moment lang zu Haßoder ethnischer Säuberung angestachelt oderdergleichen auch nur unterschwellig suggeriert hat. Die erwähnten Fernbomber hätten das bloß pauschal behauptet, ohne auch nur ein einziges Indiz in ihr Spiel zu bringen. Dem Tony und dem Bill genügte es vielmehr,daß das serbische Fernsehen dokumentarische Bilder, unterlegt mit einem Berichtston,von den „Luftschlägen“ sendete, samt all denzivilen Kollateralopfern – es gab fast nur solche, zuguterletzt an die 2000 (zweitausend) –,und das völkerrechtlich geschützte Zivilobjekt RTS gab ein berechtigtes „Ziel“ ab; es brauchte nicht einmal der übliche Kollateralirrtum fingiert zu werden.
Ich, der ich die Geschichte des DragoljubMilanović – immer wieder sei dieser Name erwähnt, damit er sich einpräge über die Aktualitäten hinaus – hier weitererzähle (Gott gebe es, nicht als Letzter), selbst wenn ich sieeinem Baumstrunk erzählen müßte, oder einem Einbaum, oder einem verrostetenSchienenstrang, war im Frühjahr 1999, während der drei Monate des vollkommen unilateralen Bombenkrieges (jedwede Gegenwehr undenkbar) zweimal für jeweils etwa eine Woche im unablässig bombardierten Land, habe dort regelmäßig das staatliche Fernsehen „geschaut“ und bezeuge, daß nichtein einziges der damals gezeigten Bilderund/oder Tonbilder, auf eine beinah unfaßbare Weise bei allen den zentralen Zerstörungen und tangentialen Menschenzerfetzungen, etwas wie Tendenz oder Propaganda, geschweige denn Haß oder Rachsucht ausstrahlte; es sei denn, Kummer, Trauer undinsbesondere Fassungslosigkeit, welche von jenen Dokumenten ausgingen, in eins mit der unerhörten, noch nie und nirgends so gehörten Tonlosigkeit der Berichtsstimmen, wären zu verdächtigen gewesen als eine neuartige und besonders raffinierte Spielart diktatorischer Propaganda oder gar Volksverhetzung. Aber konnten die Bild- und Tonsequenzen, die sich in der Regel, und das Tag und Nacht im Rhythmus der Raketeneinschläge, Sirenen und dann der Stille, mit den Dokumenten der Vernichtung abwechselten, nicht als Indizien für jene „Desinformation“ angesehen werden, die, nach dem amerikanischen Präsidenten, im Widerspruch standen zu dem, was für ein Medium rechtens war? Denn diese Bilderfolgen zeigten jeweils, in Farben, und was für welchen, ein unzerstörtes Serbien/Bundesjugoslawien, vorwiegend die Natur, die ländliche, und von den Städten die Sehenswürdigkeiten; und wenn Leute auftraten, so tanzten sie, den ewigen balkanesischen Rundtanz, oder sie sangen, einzeln oder im Chor, die sattsam bekannten Lieder von den Flußgegenden der Drina, der Save, der Donau, der Morawa. Machte da das staatliche Fernsehen, und das mitten im Krieg, dem selbstverschuldeten, nicht eindeutig Propaganda für das Land, für dessen Schönheit, für dessen Formen, Farben und Weisen? Ein Staat, Tag und Nacht unterm Bombenhimmel, strahlte Tag und Nacht, im Wechsel mit den zersplitterten Fernheizwerken und verbrannten Personenzügen, die heile Welt aus. Solch ein Fernsehen, solch ein Medium, hatte es noch nie gegeben, und würde es nie wieder geben. Wenn das nicht Desinformation war, was dann? Wenn solch eine Anstalt kein Kriegsziel war, was dann? Ein Volk, welches da dargestellt wurde als ein ganz besonderes, einmaliges, unvergleichliches, nachall den Bombennächten den Tag feierndes: War das nicht eine eindeutige Aufforderung zu Vertreibung und Mord sämtlicher anderer Völker?
Daß Dragoljub Milanović überzeugt war vom Gegenteil, von der Unschuld, der Zivilisiertheit, ja der Rechtlichkeit der von ihm als dem Leiter des Senders verantworteten Bild- und Tonfolgen: das konnte und kann ihm vielleicht zum „Vorwurf“ gemacht werden – und wenn, dann aber jenseits von jeglicher „Schuld“ und gar „Sühne“. Abgesehen davon,
In den letzten zwei Jahren besuchte ich Milanović zweimal in der Haft
daß bei einer Verlagerung des Senders in einen Bergstollen die neunmalklugen westeuropäischen und amerikanischen Bomben auch diesen Ort durch die von ihm ausgehenden Signale ausfindig gemacht hätten, mit dem Erfolg von vielleicht neunmal so vielen Opfern: Dragoljub Milanović, wie er vor seiner Verurteilung durch das Gericht seines Heimatlandes zweieinhalb Jahre nach der Bombe auf seine Anstalt erzählte, war nicht imstande gewesen, sich „vorzustellen, daß inunserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde“, „am Eingang des dritten Jahrtausends“. Und er hatte sich nicht vorstellen können, daß danach die Repression solange weitergehen würde, „bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selber zu tragen“. Und er gab zu (sic), wenn auch „ungern“: „Der Hauptgrund für unser pflichtschuldigesAusharren am Arbeitsort war, daß wir in der Tiefe unseres Herzens an ein Minimum militärischer Ehre des Gegners geglaubt haben.“ Zu diesem „Glauben“, den man vielleicht richtiger mit „Überzeugung, tiefinnerer“,übersetzt, noch ein paar Zahlen: Die nie und nirgends angekündigte Bombe, oder ferngelenkte Präzisionsrakete, spaltete, chirurgisch sauber, ohne an dem Kindergarten und den Kirchen in der Nähe nennenswerte Schäden anzurichten, das eher schmale und nicht sehr hohe – zwei oder drei Stockwerke nach meiner Erinnerung – Gebäude des serbischen Fernsehens, am Rande eines großenParks gelegen, in der Nacht des 23. April 1999um zwei Uhr vier, und Dragoljub Milanović, als der Direktor, hatte noch bis kurz davor im Sender gearbeitet.
Gab es einen anderen, „richtigen“ Ort? Einzige Alternative für den Sender des bekriegten Landes: das Senden völlig einzustellen, von sich aus, aus freien Stücken, sozusagen? Und nur so wäre das eindeutig gezielte, nicht „kollaterale“ Töten zu verhindern gewesen, und Dragoljub Milanović, als Nicht-Leiter eines Nicht-Senders, aus dem Schneider, sozusagen?
Es bleibt hier noch, in der Geschichte desDragoljub Milanović – Geschichte, die seine ist und, eher noch, das Gegenteil – zwei Orte zu erzählen. Der eine ist der große, leicht abschüssige Park mitten in Belgrad, mit dem Gebäude des serbischen Radio-Fernsehens an einem der Säume. Der andere ist die Gefängnisanlage etwa 60 Kilometer östlich der serbischen Hauptstadt, vielleicht zehn Kilometer nördlich der Provinzstadt Požarevac, wo der ehemalige TV-Direktor seit inzwischen etwa zehn Jahren in Haft ist, und wo ich ihn in den letzten zwei Jahren zweimal besucht habe.
Es muß Ende Mai 1999 gewesen sein, vierWochen nach dem nächtlichen Raketenbeschuß und drei Wochen vor dem Ende der atlantischen Intervention, daß ich nach einemmorgendlichen Zickzack durch den Park,mir scheint jetzt, eher unversehens, vor dem zerstörten Sender stand. Es stimmte: Das BelgraderKindertheater, ebenso wiedas oder die Gotteshäuser unmittelbar danebenwirkten in der Umgebung des, eher kleinen, Trümmerhaufens unversehrt,und so vielleicht besonders unversehrt, oder umgekehrt erschienen die Trümmer inmitten des wie unangetasteten Kulturguts besonders zertrümmert. Dazu trugen wohl auch die warme Sonne, der blaue Himmel und das sanfte friedliche Wehen der Maienluft bei. Weidenflaum trieb still dahin. Pappelflaum war in flauschig-silbrigen Wellen angeweht unten an die Trümmerstätte, und wer da die Hände hineingetaucht hätte, wäre von dem Flausch bis auf die Knochen gewärmt worden. Oben zuckten die Schwalben, laste, serbisch, lastovice, slowenisch, aus dem Blau und spielten mit sich selber, miteinander und mit den Sonnenstrahlen.
Mit mir standen noch andere Parkbesucher vor dem mit Seilen abgesicherten Objekt. Dieses war eine Ruine, wie es sie vor diesem speziellen Krieg – der nicht „Krieg“ heißen durfte, obwohl die Sieger sich „Sieger“ nannten – noch nirgends gegeben hatte: einesozusagen postmoderne Ruine, außen heil, oder hui, und innen hin wie nur etwas, Ruineauf klassisch, wenn nicht klassischer noch als klassisch. Zu meiner Rechten wie zur Linken versammelten sich mit der Zeit mehr und mehr Leute, und das waren keine Schaulustigen. Und doch waren sie spürbar gekommen,um zu schauen; um aufzunehmen, um da zu sein; um dagewesen zu sein. Keiner sagte ein Wort. Einige standen und schauten nur kurz –aber wie! –, und gingen stumm wieder weg, kehrten um, wohin auch immer. Auf Fragen hätten sie allesamt nicht geantwortet, nicht einmal den Kopf geschüttelt, höchstensdurch den Frager durchgeschaut. Und schongar nicht hätten sie geantwortet auf eine Frage nach der Schuld, nach dem oder nach den Schuldigen. Selbst die offensichtlichen Killer hatten sie nicht im Sinn, weder den Knopfdrücker in seiner himmelhohen Bomberkanzel, noch die Knopfdrückerchefs fern in ihrem 19-Sterne-Hotel, und schon gar nicht...,und nicht einmal... Was freilich gab es da zuschauen? Und wie konnten all diese Leute, keine „Serben“, oder „Jugoslawen“, nichts als„Leute“, überhaupt etwas sehen, geschweigedenn bezeugen, bei all dem Nassen, Feuchten, Flüssigen, Konturverwischenden? In undvor den Augen? „Einer mußte schuldig sein!“?Das galt da einmal nicht, und nicht, und wieder nicht.
Was sich dagegen zeigte, das war, jenseitsdes Landes und jenseits des Balkans, wie nurje, etwas Universelles: ein universeller Kummer; das Universum des Kummers. Aber selbstverständlich mußte in der Folge auch Recht gesprochen werden. Nur wie? Und gegen wen? Zwar hat ein Gericht, ein anderes, in Belgrad die Fernlenker im Westen noch in den Kriegsmonaten zu Haftstrafen, etwa in der Höhe der zehn Jahre später „für“ Dragoljub Milanović, sozusagen verurteilt. Doch dieses Urteil ist nie vollstreckt worden, und wirdnach, wie sagt man, menschlichem Ermessen nie vollstreckt werden – wie denn auch? Also mußte doch einer (1) schuldig sein, und zwar einer, der, wie man sagt, zur Hand war. Einer mußte schuldig sein! Mußte er?
Nicht nur die Gebäude im Umkreis der Anstalt waren unversehrt geblieben, sondernauch der eine Einzelbaum rindennah an dennun scheibenlosen Sender-Fenstern. In meiner Erinnerung ist es eine Birke, eine nicht besonders hohe. Frische Blätter treiben da aus in der Maiensonne, ein hellgrünes Leuchten im wolkenlosen Himmelblau, und zwischen den Blättern in der Maienbrise ein ständiges Glitzern, Flittern und Flackern, vonden ersten Ästen unten bis hinauf in die Kronen, und dort oben besonders deutlich: die ganze Birke ist über und über behängt mit Spiralen von Tonbändern, welche wie die jungen Birkenblätter in einer ständigen, nur andersartigen Bewegung sind – als speziel-
le Girlanden in einem fort hin und herschwingen, auf und ab schaukeln, sich zärtlich um die zarten Birkenzweiglein schlängeln. Der Luftdruck, oder was, beim Einschlag der chirurgischen Bombe, oder so, hat sie weg von den Montagetischen unten in den Senderkellern, oder wo, durch die geborstenen Scheiben hinauf und hinaus in den vor Wochen wohl fast noch kahlen Baumgeschleudert, und jetztläßt der Frühling, zwischen den grünen Birkenblättern, diese andersgrünen Bänder durch die Lüfte wehen. Unhörbarund unschädlich gemachtso all die Greuelpropaganda, die Kriegslügen und insbesondere dieDurchhaltegesänge, mobilgemacht aus sechsJahrhunderten eines bloß eingebildetenDurchhaltens, und mobilgemacht eindeutigfür Angriffszwecke, für Vertreibung, für Völkermord. Diese herrenlosen Bänder bedeuten: Da ist nichts mehr durchzuhalten. Weitergehen. Den Platz räumen. Die da ihre Finger im Spiel hatten, die gibt's nicht mehr, mitsamt den Fingern.
Mein erster Besuch bei dem Häftling DragoljubMilanović fand statt im März 2009, zehn Jahre nach den Raketen auf die Bundesrepublik Jugoslawien. Ich kam nicht allein. Zum Gefängnis brachte mich der Anwalt Milanović', der im übrigen während dessen Amtszeit Nachrichtensprecher gewesen war und am 24. März 1999, um 20 Uhr, im serbischen Fernsehen den Angriffsbefehl aus Brüssel vorgelesen hatte, und mit mir war diebereits erwähnte kanadische Juristin Tiphaine Dickson. Der Gefangene war eine Zeitlangschon Freigänger gewesen, aber damit war esaus, weil beim Gericht in Belgrad inzwischenein zweites Verfahren gegen ihn in derSchwebe war: Er habe mehreren seiner Angestellten Wohnungen verschafft, wozu DragoljubMilanović meinte, wäre es in seiner Macht gewesen, hätte er noch viel mehr seiner Mitarbeiter so geholfen. Er wirkte ein wenig ironisch, als er das sagte, aber viel stärkernoch melancholisch, und das während des ganzen Gesprächs (zu dem nur wenig Zeit eingeräumt war).
Mir schrieb er zuletzt, kyrillisch, ins Notizbuch ein Erzählgedicht, welches von ei- nem Bombenopfer handelte: „Tijana ist eine junge Serbin aus Belgrad...“, und nicht nur da, während jenes langen, Druckbuchstabe um Druckbuchstabe sorgfältigen Aufschreibens, das ein Gutteil der Gesprächszeit sozusagen verschwendete, ging von Dragoljub Milanović etwas Kindliches aus. Unvorstellbar, daß dieser Mensch, in der Epoche des Slobodan Milošević oder wann, ein Mächtiger gewesen war. Doch das konnte täuschen:Waren denn nicht einst während des Studiums bei den obligaten Gefängnisex- oder -inkursionen nicht wenige, nein, fast alle Häftlinge mir harmlos erschienen? Hatten die nicht fast alle, nein, alle, etwas ausgestrahlt – keine Unschuld, sondern etwas, das jenseits von Schuld und Unschuld war? Und war nicht die stärkste solcher Strahlungen gerade von den Mördern, den lebenslänglich Eingesperrten, ausgegangen?
Zu meinem zweiten Besuch im Gefängnisbei Dragoljub Milanović kam es im Juni 2010,zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Dieses Mal war ich mit dem Häftling inder Besucherzelle allein. Wenn er sich in den15 vergangenen Monaten, da seine Situation eher schlimmer, fast hoffnungslos geworden war (auch kaum mehr Besuchserlaubnisse), verändert hatte, so zum womöglich noch Kindlicheren hin – selbst wenn er Bitteres sagte, Verachtung ausdrückte, behielt DragoljubMilanović sein Kindergesicht, große stille Augen, Sanftheit um den Mund, der sich keinmal verzog; als seien Bitterkeit und Verachtung objektiv geworden, Sache, nicht allein seine. Seine einzige Bewegung oder Gebärde blieb jene, welche, so scheint mir jedenfalls, sämtlichen Südslawen gemeinsam ist: ein leichtes Kopfwegdrehen, oder eher -wegbiegen, vergleichbar „unserem“ Augenverdrehen, auch Schulterzucken, und doch wieder ganz und gar nicht – denn es bedeutet,über unser Abfälligwerden oder sonstwas hinaus, auch noch, so scheint es mir jedenfalls wieder, ein: „Das da, und das da, es sollte nicht sein. Es ist lächerlich. Es ist stockdumm. Es ist ein Skandal. – Aber so ist es halt.Was kann man tun? Alles sinnlos...“ Die Hände des seit fast zehn Jahren Eingesperrten lagen während des ganzen Gesprächs bewegungslos auf dem Besuchszellentisch, einestill über der anderen, bis am Ende der Stunden für einen Augenblick sich noch eine dritte Hand darüberlegte.
Ich hatte, mit Hilfe eines Freundes, einigeFragen in der Sprache des Häftlings vorbereitet, und es war dann auch nicht schwierig, dieAntworten zu verstehen. „Was fehlt Ihnen ammeisten?“ – „Die Freunde und die Familie.“ –„Was hoffen Sie?“ – „Nichts.“ – „Warum hat das Volk Sie vergessen?“ – „Die jetzige Regierung hat mich vergessen. Das Volk hat mich nicht vergessen.“ (Angedeutetes Kopfnicken des Gefängnisbeamten, der während des Gesprächs in der zum Flur offenen Tür stand.) –„Weiß das serbische Volk, daß Sie hier sind?“ – „Ja.“ (Lächeln des Beamten.) – „Warum sind gerade Sie das Ziel der Rache geworden?“ – „Der Sender war ein Symbol,
„Was hoffen Sie?“ „Nichts.“ „Warum sind Sie Ziel der Rache geworden?“
ein stärkeres Symbol als Slobodan Milošević.“ – „Ein Symbol wofür?“ – „Daß ein anderer Weg möglich war.“ – „Was für ein anderer?“ – „Ein eigener, nicht westlich, nicht östlich.“ – „Wissen Sie, daß Fußballweltmeisterschaft ist und heute Serbien gegen Deutschland spielen wird?“ – „Nein.“ – „Hören Siehier die serbischen Lieder, die der Senderwährend des Bombenkrieges immer wieder ausgestrahlt hat?“ – „Nein. Ich höre überhaupt keine Musik mehr. Aber manchmal stelle ich mir vor, draußen dort zu stehen, wodie Morawa in die Donau mündet.“ – „HoffenSie wirklich nichts?“ – „Nichts. Aber ich habeeinen Enthusiasmus fürs Leben. Ne nadam seničemu. Ali imam entuzijazam za život.“ – „Fühlen Sie Zorn oder Haß auf die, da unddort Verantwortlichen für Ihre Gefangenschaft?“ – „Nein, nichts als Verachtung. PREZIR.“ Und womöglich noch kindlicher und stiller erschien das Gesicht des Häftlings bei diesem Wort. Es war eine Verachtung, die seine Züge, statt sie zu verzerren, erweiterte.
Zwar wurde Dragoljub Milanović dann von dem Zellenbeamten, der mit dem Schlüsselbund eher bloß so spielte, zurück inden geschlossenen Trakt geführt, aber in derErinnerung jetzt ist mir, als sei er allein dahinzurückgegangen, sämtliche Türen dort offen, wenn auch nur zum Eintreten.
Aber was erzähle ich da? Den Eingekerkerten gibt es doch gar nicht. Dragoljub Milanović, oder einer seines Namens – und es leben oder lebten in Serbien nicht wenige seines Namens –, hat vielleicht einst existiert. Aber er existiert nicht mehr. Erfunden die ferngelenkten Bomben und der ferngelenkte postmoderne Krieg. Vom Winde verweht die zerfetzten Körper. Das Ganze hier nichts als eine Flußwassermusik für Ewiggestrige, Jugonostalgiker, Randfiguren. Existent, und wie!, allein die von vornherein festgestandenhabenden Sieger, beziehungsweise Gewinner. „Existieren“, heißt es übersetzt nicht auch „Draußensein“, oder, freier übersetzt, „Feinheraußensein“? The winner takes it all. Eine Geschichte demnach, erzählt allein den toten Fischen in der toten Donau, den leeren Maiskolben auf den leeren Feldern der Vojvodina.
So höre, Schuhband, zerschlissenes. Hör zu, verrosteter Nußknacker. Hör zu, krumme Nähnadel. Höre, verstaubtes Stofftier. Höre, mein abgewetzter Fußabstreifer. Hör zu, Spiegelbild. ■
Geboren 1942 in Griffen, Kärnten. Lebt inChaville bei Paris. Büchner-Preis, Kafka-Preis, Großer Österreichischer Staatspreis etc. „Die Geschichte des Dragoljub Milanović“ – auf Wunsch des Autors in alter Rechtschreibung –erscheint in erweiterter Form Ende nächster Woche bei Jung und Jung, Salzburg.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2011)
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Die Geschichte von Dragoljub Milanovic
In diesem Jahr der großen Jubiläen wird eines eher nicht oder ungern erwähnt: Vor zehn Jahren ging der sogenannte Kosovo-Krieg, in dem Serbien 78 Tage lang bombardiert wurde, unrühmlich zu Ende. Die für diesen Krieg angeführten Gründe erwiesen sich als genauso erlogen wie im Irakkrieg. Zu Recht hatte diese NATO-Aktion kein UN-Mandat und gilt daher laut Völkerrecht als Angriffskrieg. Für viele Betroffene hält das Unrecht bis heute an - ein exemplarischer Fall sei hier erzählt.
Nach einem im Juli 2000 in vielen Zeitungen aufgegriffenen Bericht von amnesty international war die Bombardierung der Belgrader Sendezentrale des Serbischen Rundfunks und Fernsehens (RTS) als das offensichtlichste Kriegsverbrechen der NATO ins Bewußtsein geraten. Eine juristische Auseinandersetzung mit dieser Gewalttat, die 16 RTS-Mitarbeitern das Leben und vielen anderen die Gesundheit kostete, wurde unumgänglich. Wer aber wurde angeklagt? Die Bomberpiloten? Die militärischen Befehlshaber der NATO? Die verantwortlichen Politiker des Bündnisses?
Neutrale Beobachter können sich das Vorgehen der Belgrader Justizbehörden nur mit dem enormen Druck aus dem Ausland erklären, die NATO moralisch zu entlasten. Dazu mußte ein anderer Schuldiger gefunden werden. Warum sollte nicht zum Beispiel der Fernsehdirektor selbst für den Bombentod seiner Mitarbeiter verantwortlich sein?
Ein Vierteljahr nach dem mal Putsch, mal Volksaufstand genannten Machtwechsel in Belgrad wird er verhaftet, im August 2001 ist die Anklageschrift gegen ihn fertig, und eine Art Schauprozeß kann beginnen. Wegen angeblicher Sicherheitsinteressen ist er nicht öffentlich. Die Vorwürfe gegen Dragoljub Milanovic beziehen sich nicht auf den Inhalt seiner Arbeit als Fernsehchef. Das ist insofern rechtlich von großer Relevanz, als das Kriegsverbechertribunal in Den Haag in einem Bericht darauf hinweist, daß Medien nicht schon zu einem legitimen militärischen Ziel werden, wenn sie die Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung mobilisieren, sondern erst, wenn sie zu Verbrechen anstacheln, wie etwa in Ruanda geschehen. Doch ein solches Vergehen hat weder der einheimische Staatsanwalt dem Fernsehen vorgeworfen, noch hat die NATO sich die Mühe gemacht, ihre allgemeinen Behauptungen über Propaganda mit einem einzigen Beispiel zu belegen.
Milanovic wurde angeklagt, sich während des Krieges nicht an die Vorschriften über Schutzmaßnahmen in den öffentlichen Einrichtungen gehalten und so Menschenleben gefährdet zu haben. Er habe versäumt, im Kriegszustand die Auslagerung der Produktionskapazitäten und das Senden von einem Ersatzstandort anzuordnen. Diesem Vorwurf schlossen sich als Nebenkläger auch Angehörige von zwei Familien an, die Opfer zu beklagen hatten. Der für Sicherheitsfragen zuständige Stellvertreter des Direktors sagte aus, er habe immer wieder versucht, Milanovic von der Nervosität einiger Kollegen und den Vorteilen eines Umzugs zu überzeugen, was dieser aber mit der Begründung abgelehnt habe, daß man im Ausweichquartier genauso gefährdet sei.
Milanovics Frau Ljiljana, selbst Journalistin und gleichsam in Sippenhaft arbeitslos, hat in einem kleinen Verlag einen Dokumentationsband über den Prozeß herausgegeben, so daß Anklage, Verteidigung und Urteil gut nachvollziehbar sind. In seiner ausführlichen Verteidigungsrede hat der Angeklagte Dragoljub Milanovic, sehr verknappt und frei übersetzt, Folgendes erwidert.
Die Verteidigungsrede
Seit der Bombardierung des Gebäudes fühle ich unermeßlichen Schmerz um die Getöteten, als Mensch, als ihr Kollege und Direktor. Ich bin dankbar, daß die Anklage nicht auch behauptet, was die Medien seit Wochen zu wissen glauben: Ich hätte sogar den Zeitpunkt der Bombardierung gewußt und meine Kollegen dem Tode überlassen. In aufgeheizter Atmosphäre wird der Schmerz, der Haß und das Leid der unglücklichen Familien mißbraucht, um mich als Kollaborateur und Mörder zu diffamieren. Dieser Senat muß nun entscheiden unter enormem Druck der manipulierten Öffentlichkeit und der neuen Machthaber, die den Staatsanwälten und Richtern täglich mit Entlassung drohen, sogar den Richtern des Verfassungsgerichtes Jugoslawiens, und die nur auf meine Aburteilung warten. Deshalb liegt es mir fern, die Ehrbarkeit dieses Gerichtes zu verletzen, das ich als das meinige erachte, obwohl ich allein schon das Erscheinen auf der Strafbank als größte Strafe, Ungerechtigkeit und Schande empfinde.
Wenn ich die Anklage richtig verstehe, was nicht leicht ist, weil sie konstruiert und sinnlos ist, sitze ich auf diesem Stuhl, weil ich die Vorschrift 37 nicht in Kraft gesetzt habe. Im Panzerschrank des Senders sind 49 von mir unterschriebene Vorschriften gefunden worden, eine mit der Nummer 37 war nicht auffindbar. Es gab sie nur in einer Computerauflistung. (Der Verteidiger wird später von einer Fälschung sprechen.) Es gibt weder das Original noch eine Kopie mit meiner Unterschrift. Ich weiß nicht, ob es diese Vorschrift je gegeben hat.
Die Anklage erwähnt nicht, daß ich schon lange vor dem Krieg, im April 1998, alle meine Sicherheitsvollmachten an meinen dafür zuständigen Stellvertreter übertragen habe. Er war schon vor meiner Zeit für diesen Bereich zuständig und hatte alle Kontakte zu den örtlichen Organen. Aber selbst die nun von der Anklage vorgelegte Fassung der Vorschrift 37 bestätigt, daß mein Verhalten während des Krieges auch in Unkenntnis dieses Papiers rechtmäßig war. Denn da ist, sogar in Fettschrift, die Klausel vermerkt, daß der RTS-Direktor befugt ist, ein dem Auslagerungsgebot widersprechendes Vorgehen anzuordnen. Das heißt, ich hatte das Recht, nach eigenem Ermessen die Vorschrift 37 außer Kraft zu setzen. Ich hätte mich nur einer staatlichen Aufforderung zur Verlegung des Senders beugen müssen, aber einen solchen Befehl oder auch nur eine Empfehlung habe ich niemals bekommen.
In der Unglücksnacht gab es eher Grund, beruhigt zu sein, da tagsüber der russische Friedensvermittler Viktor Tschernomyrdin in Belgrad war. Nun warteten wir auf sein Statement, in dem er bekannt gab, daß Miloseviæ eine internationale Truppe im Kosovo akzeptiere. Das war für mich einer der Gründe, noch bis spät in die Nacht im Sender zu bleiben. Als die Meldung aus Moskau kam, machten der notdiensthabende Redakteur und ich den Beitrag sendefertig. Gegen 1.30 Uhr habe ich mich nach Hause begeben, und ich verfluche das Schicksal, daß ich nicht noch etwas blieb, weil ich dann im Gegensatz zu meiner jetzigen Marter mit getroffen und so von der Schmach verschont geblieben wäre.
Weshalb hielt ich ein Verbleiben des Senders in den RTS-Studios nach allem Abwägen für richtig? Als staatliches Fernsehen hatten wir den Sendeauftrag, die Information der Bevölkerung über die Kriegsfolgen zu intensivieren. Das wäre aus dem Provisorium eines Bergtunnels nicht möglich gewesen. Der von manchen gewünschten Reduktion der Nachrichtensendungen, Interviews und Reportagen konnte ich nicht zustimmen, weil gerade in der Zeit der Verteidigung des Landes nichts so wichtig ist wie sie.
Noch mehr zählte für mich die schlichte Tatsache, daß es für uns im Krieg überhaupt keinen sicheren Arbeitsort gab. Von jedem Standort hätten wir uns verratende TV-Signale gesendet, und auch im Tunnel hätte uns eine »schlaue Bombe« ausfindig machen können. Wenn der Berg über uns zusammengestürzt wäre, hätte es sogar noch mehr Opfer gegeben.
Unterbewußt vielleicht sogar der Hauptgrund für unser pflichtschuldiges Verharren am Arbeitsort war - ich gebe das ungern zu -, daß wir in der Tiefe unserer Herzen an ein Minimum militärischer Ehre des Gegners geglaubt haben. Am Eingang des dritten Jahrtausends konnte ich mir letztlich nicht vorstellen, daß in unserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde. Und daß die Repressionen nicht ruhen würden, bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selbst zu tragen.
Das Urteil
Das Urteil gegen Dragoljub Milanovic hält fest, er habe leichtfertig angenommen, daß der Tod von Personen nicht eintreten werde. Er wurde für schuldig befunden, die Vorsorgemaßnahmen der jugoslawischen Bundesregierung, die örtliche Auslagerung industrieller und anderer Produktionskapazitäten betreffend, insbesondere die Vorschrift 37, mißachtet zu haben. Nach § 194, Abs. 2 in Verbindung mit §187, Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuches der Republik Serbien wurde er zu einer Haftstrafe von neun Jahren und sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt. Ein zweiter Anklagepunkt, der öffentlich verhandelt wurde, warf ihm das Wirtschaftsvergehen »unerlaubter Devisenbesitz« vor. In einem Panzerschrank waren für den Kauf neuer Technik staatlich zugeteilte Devisen gefunden worden, die dort nicht hätten liegen dürfen. Das ergab zusätzlich acht Monate Haft.
Das Oberste Gericht Serbiens bestätigte die Gesamtstrafe von zehn Jahren und zwei Monaten. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beschuldigte. Er sitzt seit mehr als acht Jahren in Haft.
Diese Art Rechtsprechung, würde sie sich international durchsetzen, stellt letztlich im Falle eines als »friedenerzwingende Maßnahme« ausgewiesenen Angriffskrieges alles unter Strafe, was nicht einer bedingungslosen Kapitulation gleichkommt. Der Kosovo-Krieg ist bis heute weder zeitgeschichtlich, noch juristisch, noch rechtsphilosophisch aufgearbeitet. Aber manche Einzelheiten sind bekannt geworden. Knapp ein Jahr nach dem Krieg sagte der damalige britische Premierminister Tony Blair in einem Interview, der Angriff auf RTS sei notwendig gewesen, weil auch westliche Sender die Videos von zivilen Opfern übernommen hätten. »Das ist eines der Probleme, wenn man in einer modernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft Krieg führt. Uns war klar, daß diese Bilder auftauchen und eine instinktive Sympathie für die Opfer bewirken würden.« RTS wurde bombardiert, weil die Weltöffentlichkeit nicht erfahren sollte, was damals in Jugoslawien wirklich geschah.
In ihrem neuen Buch »Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen« (Rowohlt Verlag, 302 Seiten, 18.90 €) befaßt sich Daniela Dahn in dem Kapitel »Mein erster Angriffskrieg« ausführlich mit dem Krieg vor zehn Jahren, mit den Lügen und den Folgen. Ossietzky wird noch näher über das Buch berichten.
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In der Nacht des 23. April 1999 um 2:04 Uhr
Rolf Becker
Zur genannten Zeit zerstörten Bomben der NATO den Belgrader Rundfunk- und Fernsehsender RTS (Radio-Televizija Srbije) – punktgenau abgeworfen wie auf Brücken (Varvarin), Wasser- und Elektrizitätswerke, Automobil- und Chemiefabriken (Kragujevac, Novi Sad, Pancevo), Krankenhäuser, Schulen und Hochschulen, Wohnviertel, sogar auf den belebten Marktplatz von Nis – die Liste ließe sich fortsetzen. Sie zerfetzten 16 der zu dieser späten Stunde noch Beschäftigten und verletzten, zum Teil schwer, eine mindestens gleiche Anzahl. Zur Rechenschaft gezogen für diesen »speziellen Krieg – der nicht ›Krieg‹ heißen durfte, obwohl die Sieger sich ›Sieger‹ nannten«, wurden weder Täter noch Staaten der vereinigten Aggressoren, sondern einzig und allein der damalige Direktor des Senders. »Die Geschichte des Dragoljub Milanovic« – Peter Handke hat sie in den ersten Monaten dieses Jahres aufgeschrieben, vor wenigen Wochen wurde sie veröffentlicht.
Nur 32 kleinformatige, dabei großzügig gesetzte Druckseiten. Aber was für eine Geschichte. Vor wenigen Wochen erreichte mich der Anruf serbischer Freunde, Peter Handke zu fragen, ob er bereit sei und Zeit habe, die von mehr als 700 allein in Deutschland unterzeichnete Petition zur Freilassung von Dragoljub Milanovic der Regierung in Belgrad zu übergeben – anders sei die Aufmerksamkeit der Medien dafür kaum zu gewinnen. Seine Antwort liegt jetzt vor, schwarz auf weiß, statt des vermutlich vergeblichen Bittganges zu den neuen, den Siegermächten hörigen Herren; veröffentlicht zunächst in deutscher, vielleicht auch bald in serbischer Sprache, wünschenswert in allen NATO-Sprachen. Anmerkung Handkes zur Petition: »... die aber keiner der ›führenden westlichen Intellektuellen‹ unterschrieben hat – außer Harold Pinter (aus dem Jenseits).«
Nein – kein politisches Pamphlet, keine Kampfschrift, kein moralischer Appell, auch wenn diese Geschichte Peter Handkes seitens einiger auf vermeintlich politische Korrektheit bedachter Wächter in den Feuilleton-Redaktionen als Rückfall des Autors in seine Rolle als »echtester Erbwalter alter jugoslawischer Kultur und Tradition« (Welt online) gewertet wird. Auffallend aber zugleich, daß die Summe der Tatsachen, die in den zehn seit dem Überfall vergangenen Jahren ans Licht gekommen sind, sogar Blätter wie die FAZ zu ein wenig differenzierterer Stellungnahme veranlaßt: »Man mag zu Peter Handke stehen, wie man will, speziell aufgrund seiner umstrittenen Haltung zu Serbien: Er ist nun einmal das ›Nein‹, das hinschaut, das sich mit einfachen Wahrheiten nicht zufriedengibt. Das zeichnet ihn aus.« Und über Dragoljub Milanovic sogar: »Er wurde verurteilt und ins Gefängnis gesteckt für eine Tat, die andere begangen haben: nämlich wir. Seit neun Jahren ist er Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes, wegen der nächtlichen Bombardierung seiner Fernsehanstalt durch die NATO.« Das Eingeständnis wird allerdings wenige Zeilen später relativiert durch Gemeinplätze wie: »Der bedrängte Staat funkt Durchhalteparolen, der andere will Aufgabe: Konflikt programmiert« mit der entsprechenden Folgerung: »Wenn man sich just an der Stelle aufhält, an der das Skalpell angesetzt wird, dann fließt Blut.« 16 Tote, 16 Verletzte, drei davon schwer – so einfach ist das aus der Sicht mancher Redaktionsstuben.
Bei allem, was Peter Handke infrage stellt, wird ihm die Version der Siegermächte und der von ihnen geschaffenen Einrichtungen wie dem Haager Tribunal entgegengehalten. So stellt sich für das österreichische Fernsehen »die Frage, ob das serbische Fernsehen tatsächlich nur Kriegspropaganda betrieben hat oder, wie Handke meint – und er bezieht sich auf seine subjektive Wahrnehmung der gesendeten Bilder 1999 – eben nicht. Denn daß den Bildern von den angerichteten Schäden und den Opfern des NATO-Einsatzes Bilder mit blühenden Landschaften eines unzerstörten Landes entgegengestellt wurden, das will der Erzähler nicht als Propaganda sehen« (ORF). Fazit: Bestätigung der NATO-Version – der Sender mußte ausgeschaltet werden, punktgenau. Handkes Zweifel, Einwände und Belege werden wie bei seinem in diesem Sommer bei den Salzburger Festspielen uraufgeführtem Stück »Immer noch Sturm« vomORF »seiner träumerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Kärntner-slowenischen Familiengeschichte« zugeordnet. Anders die Neue Zürcher Zeitung: »Es stimmt schon: Die Sieger dieses Krieges maßen sich mit andern Ellen als die Verlierer, und in Bezug auf die Bombardierung hängt über dem Haager Kriegsverbrechertribunal der Verdacht der Siegerjustiz.«Nachsatz allerdings, um die NATO-Mächte, darunter schließlich auch die benachbarte BRD, nicht als Aggressor zu bestätigen: »Aber exkulpiert dies automatisch die Verlierer? ... Handkes Wut ist dort produktiv, wo sie westliche Heuchelei demaskiert. Doch sie vernebelt ihm den Blick, wenn es um die serbischen Zustände jener Jahre geht.«
Wie umgehen mit einem Autor, der sich von seinem Bemühen um geschichtliche Wahrheit nicht abbringen läßt und sich samt seinen Lesern dem Mainstream verweigert? Die Autorin der bereits zitierten Online-Ausgabe des Springer-Verlages scheint zu glauben, Peter Handke (ausgerechnet ihn!) auch ästhetisch abwerten zu können: »Halb Literatur, halb literarisch entgleisende Realfiktion. Und stellenweise auch Kitsch, wenn er Milanovic beschreibt: ›Die Hände des seit fast zehn Jahren Eingesperrten lagen während des ganzen Gesprächs bewegungslos auf dem Besucherzellentisch, eine still über der anderen, bis am Ende der Stunden für einen Augenblick sich noch eine dritte Hand darüberlegte.‹«Als wäre der Eindruck, den Handke beschreibt, falsch, wenn Milanovic im Laufe des mehrstündigen Gespräches tatsächlich mal seine Hände bewegt hätte; falsch wie all das, was er zur Zerschlagung Jugoslawiens und zum Bombenterror gegen die serbische Bevölkerung geäußert hat: »Handke taugt nicht zum politischen Agitator, zu sehr läßt er Wut, Trauer, Trotz und Sarkasmus ineinander fließen. Wie bei jedem, der aus der Emotion heraus Politik betreibt, entstehen Fehler, Ungenauigkeiten. Handke interessiert sich nicht für das präzise Geschehen. Er fügt an: ›wenn ich mich recht erinnere‹ und: ›oder so ähnlich‹. Die literarische Form ermöglicht die Rettung ins Ungefähre.« Bild lesen statt Handke, denn: »Als literarisches Werk bietet das Buch, bis auf ein paar Seiten, wenig Genuß.«
Ein vergleichbar erhellender Rundumschlag findet sich im BerlinerTagesspiegel: »Liebe Literaturpreisjurys, vergeßt Peter Handke! Es bringt euch nur Ärger und Peinlichkeiten, wenn ihr versucht, den österreichischen Autor auszuzeichnen. Eigentlich ist das ja seit dem Eklat um den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf vor fünf Jahren klar. Damals sperrten sich die Stadtoberen gegen die Entscheidung der unabhängigen Jury. Jetzt gibt es eine verkleinerte Neuauflage dieser Posse. Es ist ein Skandälchen mit Ansage: Peter Handke bekommt den Candide-Preis, aber nicht das Preisgeld von 15 000 Euro. Denn dem Sponsor – ein Buchbindemaschinenhersteller – paßt die Wahl der fünfköpfigen Jury nicht. Er weigert sich, die Summe zur Verfügung zu stellen … Grund für den Konflikt ist wie schon 2006 Handkes Engagement für Serbien. Sein Werk hat der 1942 in Kärnten geborene Schriftsteller dadurch tief beschädigt.«
»Es ist hier eine Geschichte zu erzählen« – so beginnt Peter Handke, und er löst ein, was er wie einen Auftrag ankündigt, nicht mehr und nicht weniger. Was den Zorn der Herren des Mainstreams auslöst, ist der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte, ist das Fragen und Hinterfragen, auch Provozieren ihres Autors, der seine Wahrnehmungen und Erfahrungen gegen das von Politik und Medien verbreitete Bild verteidigt, gegen »die von vornherein festgestandenhabenden Sieger, beziehungsweise Gewinner ... Eine Geschichte demnach, erzählt allein den toten Fischen in der toten Donau, den leeren Maiskolben auf den leeren Feldern der Vojvodina, einem vertrockneten Blumenstrauß in einer verrosteten Konservendose auf dem Friedhof von, sagen wir, Porodin, und zuletzt dem Schädel, oder was von ihm übrig ist, im Grab von Ivo Andric.«
Resignation? Keineswegs, sonst würde Peter Handke die Geschichte nicht publizieren. Bitter gelegentlich, zynisch sogar angesichts der Kräfteverhältnisse, die es trotzdem zu verändern gilt. Provokation zum Nachdenken, Überprüfen und entsprechenden Eingreifen, zu dem er, der Einzelne, schreibend seinen Beitrag leistet: »...was für eine Art von Krieg. Devise: Ein Hirngespinst, wenn es amtlich wird und Arm der Macht, findet immer einen Gesetzesparagraphen, welcher es auf die Sprünge bringt – es realisiert; mit anderen Worten: in den Schein eines Rechts setzt.«
Über diesen Krieg »gegen den Staat, welcher damals noch ›Bundesrepublik Jugoslawien‹ hieß« hat er in zahlreichen Romanen, Theaterstücken, Berichten geschrieben. Hier beschränkt er sich – scheinbar – auf das Beispiel eines Senders: »Dem Tony und dem Bill genügte es, daß das serbische Fernsehen dokumentarische Bilder, unterlegt mit einem Berichtston, von den ›Luftschlägen‹ sendete, samt all den zivilen Kollateralopfern – es gab fast nur solche, zu guter Letzt an die 2.000 (zweitausend) –, und das völkerrechtlich geschützte Zivilobjekt RTS gab ein berechtigtes ›Ziel‹ ab; es brauchte nicht einmal der übliche Kollateralirrtum fingiert zu werden.« Den im Mainstream dahintreibenden Medien stellt er nicht mehr – und nicht weniger! – als seine eigene Wahrnehmung entgegen: Ich bezeuge, daß nicht ein einziges der damals gezeigten Bilder und/oder Tonbilder, auf eine beinah unfaßbare Weise bei allen den zentralen Zerstörungen und tangentialen Menschenzerfetzungen, etwas wie Tendenz oder Propaganda, geschweige denn Haß oder Rachsucht ausstrahlte.«
Handke wird zum Zeugen für Dragoljub Milanovic, »Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes«, der »nicht imstande gewesen war, sich ›vorzustellen, daß in unserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde ... am Eingang des dritten Jahrtausends‹,« und noch weniger, »daß danach die Repression solange weitergehen würde, ›bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selber zu tragen‹.« Wie der ehemalige Bürgermeister von Varvarin, der vor Gericht gestellt werden soll, »weil er an dem bewußten Himmelfahrtstag, als zwei Bomben auf die kleine Brücke über die Morava – dort im Süden noch ein Flüßchen – abgefeuert worden sind, das Sperren der Brücke verabsäumt hatte; denn er hätte wissen müssen, daß von März bis Juni 1999 ausnahmslos jede, selbst die unbedeutendste öffentliche Einrichtung als Kriegsziel in Frage kam; daß durch die Bomben auf die Brücke von Varvarin die eigene Tochter des Bürgermeisters, des predsednik opštine, getötet worden ist, tut der Strafbarkeit keinen Abbruch.«
Mit Georg Büchner’schen Purzelbäumen hebt Handke gegen Ende seiner Geschichte Widersprüche, die unlösbar scheinen, auf. Wie jener die fürstlichen Popanze der Reiche von Pippi und Popo läßt er die Tonys und Bills der Imperien unserer Tage schlichtweg ungeschehen machen, was sie gestern angerichtet haben.
Handke lesen. Und sei es nur diese kleine Geschichte, in einer künftigen Gesellschaft der Weltliteratur zuzuordnen: »So höre, Schuhband, zerschlissenes. Hör zu, verrosteter Nußknacker. Hör zu, krumme Nähnadel. Höre, verstaubtes Stofftier. Höre, mein abgewetzter Fußabstreifer. Höre zu, Spiegelbild.«
Peter Handke: »Die Geschichte des Dragoljub Milanovic«, Jung und Jung Verlag, 37 Seiten, 9 €
http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/683784/Die-Geschichte-des-Dragoljub-Milanovi
Die Geschichte des Dragoljub Milanović
05.08.2011 | 15:30 | Von Peter Handke (Die Presse)
Der vergessene Gefangene oder: Der Fall des Serben Dragoljub Milanović, der nach einem absurden Gerichtsurteil seit bald zehn Jahren in einem Gefängnis nahe Belgrad sitzt.
Es ist hier eine Geschichte zu erzählen. Nur weiß ich nicht, wem. Mir scheint, es gebe keinen Adressatenfür diese Geschichte, jedenfalls nicht in der Mehrzahl, und nicht einmal in der Einzahl. Mir ist auch, es sei zu spät, sie zu erzählen; der Zeitpunkt verpaßt. Und trotzdem ist es eine dringende Geschichte. Der Meister Eckhart spricht einmal von seinem Bedürfnis zu predigen, das so stark sei, daß er, fände er für seine Predigt kein Gegenüber, seine Predigt – wenn ich mich recht erinnere – notfalls auch an einen „Opferstock“richten würde. Hier handelt es sich um keine Predigt, sondern, wie gesagt, um eine Geschichte. Aber auch die wäre notfalls einem Holzstoß oder einem leeren Schneckenhaus zu erzählen oder gar, wie im übrigen nicht zum ersten Male, mir hier ganz allein.
Es ist die Geschichte des Dragoljub Milanović, des ehemaligen Direktors von RTS (Radio-Televizija Srbije), dem serbischen Radio und Fernsehen. Seit neun Jahren ist er Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes, wegen des nächtlichen Bombenbeschusses der Nato auf die TV-Anstalt am 23. April 1999, etwa vier Wochen nach Beginn desKrieges gegen den Staat, welcher damalsnoch „Bundesrepublik Jugoslawien“ hieß:16 tote Angestellte des Senders, und ebensoviele Verletzte.
Dragoljub Milanović ist bis heute die einzige Person, die für die Ereignisse des Kriegesder „Nordatlantischen Verteidigungsorganisation“ gegen Jugoslawien – eines Krieges, derbei den unvermeidlichen Siegern, und inzwischen nicht nur bei diesen, sondern auch in der Terminologie der offiziellen westlichen Geschichtsschreibung, den Namen „Intervention im Kosovo“ trägt –, Dragoljub Milanović ist bis heute die einzige Person, die als Folge jener Intervention im Kosovo angeklagt, verurteilt (beides von der Staatsanwaltschaft und von einem Gericht seines eigenen,von den Westmächten besiegten Landes) undfür fast zehn Jahre eingesperrt worden ist.
Zwar haben die Angehörigen der Opfer der nächtlichen Bombe auf das staatlicheserbische Fernsehgebäude beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg einen Prozeß gegen die Täter beantragt. Aber das Gericht hat sich umgehend für unzuständig erklärt; als Gerichtshof für Menschenrechte sei es zuständig einzig für Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Territorien der dessen verdächtigten Staaten; und da dieBombe in einem anderen Land, also exterritorial, getötet habe, komme der Europäische Gerichtshof für einen Prozeß nicht in Frage (oder so ähnlich).
Ebenso entschied dann ein Jahr später das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag, daß die „Fehler“ der Nato bei deren Intervention im Kosovo, wozu der Angriff auf das Belgrader Fernsehen gehört habe (oder so ähnlich), keine Kriegsverbrechen seien. Dem-
Dragoljub Milanović: verantwortlichfür die 16 Toten in der TV-Anstalt?
nach war für die Geschehnisse der Nachtdes 23. April 1999 auch in Holland der Prozeßweg ausgeschlossen.
Dafür wurde, zwei Jahre nach der Bombeauf das serbische Fernsehen, dessen – inzwischen ehemaligem – Direktor, als dem Verantwortlichen für die 16 Toten und die ebenso vielen Verletzten, von einem Belgrader Distriktsgericht der Prozeß gemacht. Dieses Verfahren, so ausdrücklich das Tribunal, sei vollkommen unabhängig zu führen von demKrieg, welcher „zur Tatzeit“ Tag und (vor allem) Nacht aus 5000 Meter Höhe gegen das Land im Gange war, und habe vor allem nichts zu schaffen mit irgendwelchen etwaigen Kriegsverbrechen der Bombenzentrale im fernen Brüssel. Es wurde einzig verhandeltgegen Dragoljub Milanović, den Mann, dem vorgeworfen wurde, für seine ihm untergebenen Angestellten, fahrlässig oder womöglich gar absichtlich, die nötigen Sicherheitsvorkehrungen versäumt zu haben. Für einen solchen Tatbestand fand sich der entsprechendeParagraph im Strafgesetzbuch der Republik Serbien. (Zu all den Zahlen in dieser Geschichte noch § 194, Absatz 1 und 2.) Verstehtsich wieder, daß auch Paragraph samt Tatbestand im Prozeß unabhängig davon zu betrachten waren, ob zur Tatzeit Krieg herrschte oder was für eine Art von Krieg. Devise: Ein Hirngespinst, wenn es amtlich wird und Arm der Macht, findet immer einen Gesetzesparagraphen, welcher es auf die Sprünge bringt – es realisiert; mit anderen Worten: in den Schein eines Rechts setzt.
Der hauptsächliche Schuldbeweis gegen den einstigen Fernsehdirektor: ein Zettel miteiner Anweisung von der ihm übergeordneten staatlichen Stelle, den Sender samt dessenMitarbeitern von seinem Standort mitten in der – da noch bundesjugoslawischen – Haupt-stadt „auszulagern“. Es sei nicht auszuschließen, daß der Sender (obwohl, nach Genfer und sonstwelcher Konvention, ein „ziviles Objekt“ und als solches von Kriegshandlungen zu verschonen) zum Bombenziel, zum „target“, bestimmt werde.
Diese Anweisung, ein Zettel ohne Herkunftssignum, anonym, ohne Unterschrift,auch ohne die Unterschrift des Adressaten Milanović, mit der dieser sämtliche Anweisungen der ihm übergeordneten Stelle in jenen Monaten zur Kenntnis genommen hatte,genügte dem Gericht für den Schuldspruch. Dabei handelte es sich nicht einmal um eine regelrechte „Anweisung“. Diese war so gehalten,daß es dem Angewiesenen, also dem Direktor, freistand, auch eine Entscheidung gegen das Verlagern des Senders (ob in eine Berghöhle oder einen Tunnel) zu treffen. Der anonyme, irgendwie auf irgendwelches Papier getippte Zettel war stattdessen groß begleitet von einer Zahl, der Zahl 37 (wieder eine Zahl).
Gab es aber nicht Anzeichen, die denDragoljub Milanović zu einem Verlagern desSenders unter dem Bombenhimmel hätten bewegen können, oder gar müssen, und zwaraus Eigenem, ohne jene obskure Anweisung? Hatte denn nicht schon nach den ersten ein, zwei Bombenwochen einer der Fernkrieger, der englische Premierminister Anthony „To- ny“ Blair, welcher verlautbarte, daß solche Stationen „Teil des diktatorischen Apparats ... sind, ... benutzt, um die ethnischen Säuberungen im Kosovo zu betreiben“, dazu lautgedacht, „diese staatlich kontrollierten Medien“ seien ein „richtiges und berechtigtes Ziel“? Und hatte nicht ebenso der Präsident der Vereinigten Staaten, William „Bill“ Clinton, zu verstehen gegeben, das serbische Fernsehen werde benutzt „für die Verbreitung von Haß und Desinformation“ und sei kein „Medium im überkommenen Sinn“?
Die Geschichte des Dragoljub Milanović ist schon öfter erzählt worden, ausführlicher,zum Beispiel von der deutschen Publizistin Daniela Dahn in einem Kapitel ihres Buches „Wehe dem Sieger!“, völkerrechtlich betrachtet und juristisch gestützt zum Beispiel von der kanadischen Advokatin Tiphaine Dickson, welche belegt hat, daß das serbische staatliche Fernsehen selbst in den bomben-
Anklagepunkt: Milanović hätte den Fernsehsender „auslagern“ müssen
intensiven Tagen und Nächten des Nato-Krieges keinen einzigen Moment lang zu Haßoder ethnischer Säuberung angestachelt oderdergleichen auch nur unterschwellig suggeriert hat. Die erwähnten Fernbomber hätten das bloß pauschal behauptet, ohne auch nur ein einziges Indiz in ihr Spiel zu bringen. Dem Tony und dem Bill genügte es vielmehr,daß das serbische Fernsehen dokumentarische Bilder, unterlegt mit einem Berichtston,von den „Luftschlägen“ sendete, samt all denzivilen Kollateralopfern – es gab fast nur solche, zuguterletzt an die 2000 (zweitausend) –,und das völkerrechtlich geschützte Zivilobjekt RTS gab ein berechtigtes „Ziel“ ab; es brauchte nicht einmal der übliche Kollateralirrtum fingiert zu werden.
Ich, der ich die Geschichte des DragoljubMilanović – immer wieder sei dieser Name erwähnt, damit er sich einpräge über die Aktualitäten hinaus – hier weitererzähle (Gott gebe es, nicht als Letzter), selbst wenn ich sieeinem Baumstrunk erzählen müßte, oder einem Einbaum, oder einem verrostetenSchienenstrang, war im Frühjahr 1999, während der drei Monate des vollkommen unilateralen Bombenkrieges (jedwede Gegenwehr undenkbar) zweimal für jeweils etwa eine Woche im unablässig bombardierten Land, habe dort regelmäßig das staatliche Fernsehen „geschaut“ und bezeuge, daß nichtein einziges der damals gezeigten Bilderund/oder Tonbilder, auf eine beinah unfaßbare Weise bei allen den zentralen Zerstörungen und tangentialen Menschenzerfetzungen, etwas wie Tendenz oder Propaganda, geschweige denn Haß oder Rachsucht ausstrahlte; es sei denn, Kummer, Trauer undinsbesondere Fassungslosigkeit, welche von jenen Dokumenten ausgingen, in eins mit der unerhörten, noch nie und nirgends so gehörten Tonlosigkeit der Berichtsstimmen, wären zu verdächtigen gewesen als eine neuartige und besonders raffinierte Spielart diktatorischer Propaganda oder gar Volksverhetzung. Aber konnten die Bild- und Tonsequenzen, die sich in der Regel, und das Tag und Nacht im Rhythmus der Raketeneinschläge, Sirenen und dann der Stille, mit den Dokumenten der Vernichtung abwechselten, nicht als Indizien für jene „Desinformation“ angesehen werden, die, nach dem amerikanischen Präsidenten, im Widerspruch standen zu dem, was für ein Medium rechtens war? Denn diese Bilderfolgen zeigten jeweils, in Farben, und was für welchen, ein unzerstörtes Serbien/Bundesjugoslawien, vorwiegend die Natur, die ländliche, und von den Städten die Sehenswürdigkeiten; und wenn Leute auftraten, so tanzten sie, den ewigen balkanesischen Rundtanz, oder sie sangen, einzeln oder im Chor, die sattsam bekannten Lieder von den Flußgegenden der Drina, der Save, der Donau, der Morawa. Machte da das staatliche Fernsehen, und das mitten im Krieg, dem selbstverschuldeten, nicht eindeutig Propaganda für das Land, für dessen Schönheit, für dessen Formen, Farben und Weisen? Ein Staat, Tag und Nacht unterm Bombenhimmel, strahlte Tag und Nacht, im Wechsel mit den zersplitterten Fernheizwerken und verbrannten Personenzügen, die heile Welt aus. Solch ein Fernsehen, solch ein Medium, hatte es noch nie gegeben, und würde es nie wieder geben. Wenn das nicht Desinformation war, was dann? Wenn solch eine Anstalt kein Kriegsziel war, was dann? Ein Volk, welches da dargestellt wurde als ein ganz besonderes, einmaliges, unvergleichliches, nachall den Bombennächten den Tag feierndes: War das nicht eine eindeutige Aufforderung zu Vertreibung und Mord sämtlicher anderer Völker?
Daß Dragoljub Milanović überzeugt war vom Gegenteil, von der Unschuld, der Zivilisiertheit, ja der Rechtlichkeit der von ihm als dem Leiter des Senders verantworteten Bild- und Tonfolgen: das konnte und kann ihm vielleicht zum „Vorwurf“ gemacht werden – und wenn, dann aber jenseits von jeglicher „Schuld“ und gar „Sühne“. Abgesehen davon,
In den letzten zwei Jahren besuchte ich Milanović zweimal in der Haft
daß bei einer Verlagerung des Senders in einen Bergstollen die neunmalklugen westeuropäischen und amerikanischen Bomben auch diesen Ort durch die von ihm ausgehenden Signale ausfindig gemacht hätten, mit dem Erfolg von vielleicht neunmal so vielen Opfern: Dragoljub Milanović, wie er vor seiner Verurteilung durch das Gericht seines Heimatlandes zweieinhalb Jahre nach der Bombe auf seine Anstalt erzählte, war nicht imstande gewesen, sich „vorzustellen, daß inunserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde“, „am Eingang des dritten Jahrtausends“. Und er hatte sich nicht vorstellen können, daß danach die Repression solange weitergehen würde, „bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selber zu tragen“. Und er gab zu (sic), wenn auch „ungern“: „Der Hauptgrund für unser pflichtschuldigesAusharren am Arbeitsort war, daß wir in der Tiefe unseres Herzens an ein Minimum militärischer Ehre des Gegners geglaubt haben.“ Zu diesem „Glauben“, den man vielleicht richtiger mit „Überzeugung, tiefinnerer“,übersetzt, noch ein paar Zahlen: Die nie und nirgends angekündigte Bombe, oder ferngelenkte Präzisionsrakete, spaltete, chirurgisch sauber, ohne an dem Kindergarten und den Kirchen in der Nähe nennenswerte Schäden anzurichten, das eher schmale und nicht sehr hohe – zwei oder drei Stockwerke nach meiner Erinnerung – Gebäude des serbischen Fernsehens, am Rande eines großenParks gelegen, in der Nacht des 23. April 1999um zwei Uhr vier, und Dragoljub Milanović, als der Direktor, hatte noch bis kurz davor im Sender gearbeitet.
Gab es einen anderen, „richtigen“ Ort? Einzige Alternative für den Sender des bekriegten Landes: das Senden völlig einzustellen, von sich aus, aus freien Stücken, sozusagen? Und nur so wäre das eindeutig gezielte, nicht „kollaterale“ Töten zu verhindern gewesen, und Dragoljub Milanović, als Nicht-Leiter eines Nicht-Senders, aus dem Schneider, sozusagen?
Es bleibt hier noch, in der Geschichte desDragoljub Milanović – Geschichte, die seine ist und, eher noch, das Gegenteil – zwei Orte zu erzählen. Der eine ist der große, leicht abschüssige Park mitten in Belgrad, mit dem Gebäude des serbischen Radio-Fernsehens an einem der Säume. Der andere ist die Gefängnisanlage etwa 60 Kilometer östlich der serbischen Hauptstadt, vielleicht zehn Kilometer nördlich der Provinzstadt Požarevac, wo der ehemalige TV-Direktor seit inzwischen etwa zehn Jahren in Haft ist, und wo ich ihn in den letzten zwei Jahren zweimal besucht habe.
Es muß Ende Mai 1999 gewesen sein, vierWochen nach dem nächtlichen Raketenbeschuß und drei Wochen vor dem Ende der atlantischen Intervention, daß ich nach einemmorgendlichen Zickzack durch den Park,mir scheint jetzt, eher unversehens, vor dem zerstörten Sender stand. Es stimmte: Das BelgraderKindertheater, ebenso wiedas oder die Gotteshäuser unmittelbar danebenwirkten in der Umgebung des, eher kleinen, Trümmerhaufens unversehrt,und so vielleicht besonders unversehrt, oder umgekehrt erschienen die Trümmer inmitten des wie unangetasteten Kulturguts besonders zertrümmert. Dazu trugen wohl auch die warme Sonne, der blaue Himmel und das sanfte friedliche Wehen der Maienluft bei. Weidenflaum trieb still dahin. Pappelflaum war in flauschig-silbrigen Wellen angeweht unten an die Trümmerstätte, und wer da die Hände hineingetaucht hätte, wäre von dem Flausch bis auf die Knochen gewärmt worden. Oben zuckten die Schwalben, laste, serbisch, lastovice, slowenisch, aus dem Blau und spielten mit sich selber, miteinander und mit den Sonnenstrahlen.
Mit mir standen noch andere Parkbesucher vor dem mit Seilen abgesicherten Objekt. Dieses war eine Ruine, wie es sie vor diesem speziellen Krieg – der nicht „Krieg“ heißen durfte, obwohl die Sieger sich „Sieger“ nannten – noch nirgends gegeben hatte: einesozusagen postmoderne Ruine, außen heil, oder hui, und innen hin wie nur etwas, Ruineauf klassisch, wenn nicht klassischer noch als klassisch. Zu meiner Rechten wie zur Linken versammelten sich mit der Zeit mehr und mehr Leute, und das waren keine Schaulustigen. Und doch waren sie spürbar gekommen,um zu schauen; um aufzunehmen, um da zu sein; um dagewesen zu sein. Keiner sagte ein Wort. Einige standen und schauten nur kurz –aber wie! –, und gingen stumm wieder weg, kehrten um, wohin auch immer. Auf Fragen hätten sie allesamt nicht geantwortet, nicht einmal den Kopf geschüttelt, höchstensdurch den Frager durchgeschaut. Und schongar nicht hätten sie geantwortet auf eine Frage nach der Schuld, nach dem oder nach den Schuldigen. Selbst die offensichtlichen Killer hatten sie nicht im Sinn, weder den Knopfdrücker in seiner himmelhohen Bomberkanzel, noch die Knopfdrückerchefs fern in ihrem 19-Sterne-Hotel, und schon gar nicht...,und nicht einmal... Was freilich gab es da zuschauen? Und wie konnten all diese Leute, keine „Serben“, oder „Jugoslawen“, nichts als„Leute“, überhaupt etwas sehen, geschweigedenn bezeugen, bei all dem Nassen, Feuchten, Flüssigen, Konturverwischenden? In undvor den Augen? „Einer mußte schuldig sein!“?Das galt da einmal nicht, und nicht, und wieder nicht.
Was sich dagegen zeigte, das war, jenseitsdes Landes und jenseits des Balkans, wie nurje, etwas Universelles: ein universeller Kummer; das Universum des Kummers. Aber selbstverständlich mußte in der Folge auch Recht gesprochen werden. Nur wie? Und gegen wen? Zwar hat ein Gericht, ein anderes, in Belgrad die Fernlenker im Westen noch in den Kriegsmonaten zu Haftstrafen, etwa in der Höhe der zehn Jahre später „für“ Dragoljub Milanović, sozusagen verurteilt. Doch dieses Urteil ist nie vollstreckt worden, und wirdnach, wie sagt man, menschlichem Ermessen nie vollstreckt werden – wie denn auch? Also mußte doch einer (1) schuldig sein, und zwar einer, der, wie man sagt, zur Hand war. Einer mußte schuldig sein! Mußte er?
Nicht nur die Gebäude im Umkreis der Anstalt waren unversehrt geblieben, sondernauch der eine Einzelbaum rindennah an dennun scheibenlosen Sender-Fenstern. In meiner Erinnerung ist es eine Birke, eine nicht besonders hohe. Frische Blätter treiben da aus in der Maiensonne, ein hellgrünes Leuchten im wolkenlosen Himmelblau, und zwischen den Blättern in der Maienbrise ein ständiges Glitzern, Flittern und Flackern, vonden ersten Ästen unten bis hinauf in die Kronen, und dort oben besonders deutlich: die ganze Birke ist über und über behängt mit Spiralen von Tonbändern, welche wie die jungen Birkenblätter in einer ständigen, nur andersartigen Bewegung sind – als speziel-
le Girlanden in einem fort hin und herschwingen, auf und ab schaukeln, sich zärtlich um die zarten Birkenzweiglein schlängeln. Der Luftdruck, oder was, beim Einschlag der chirurgischen Bombe, oder so, hat sie weg von den Montagetischen unten in den Senderkellern, oder wo, durch die geborstenen Scheiben hinauf und hinaus in den vor Wochen wohl fast noch kahlen Baumgeschleudert, und jetztläßt der Frühling, zwischen den grünen Birkenblättern, diese andersgrünen Bänder durch die Lüfte wehen. Unhörbarund unschädlich gemachtso all die Greuelpropaganda, die Kriegslügen und insbesondere dieDurchhaltegesänge, mobilgemacht aus sechsJahrhunderten eines bloß eingebildetenDurchhaltens, und mobilgemacht eindeutigfür Angriffszwecke, für Vertreibung, für Völkermord. Diese herrenlosen Bänder bedeuten: Da ist nichts mehr durchzuhalten. Weitergehen. Den Platz räumen. Die da ihre Finger im Spiel hatten, die gibt's nicht mehr, mitsamt den Fingern.
Mein erster Besuch bei dem Häftling DragoljubMilanović fand statt im März 2009, zehn Jahre nach den Raketen auf die Bundesrepublik Jugoslawien. Ich kam nicht allein. Zum Gefängnis brachte mich der Anwalt Milanović', der im übrigen während dessen Amtszeit Nachrichtensprecher gewesen war und am 24. März 1999, um 20 Uhr, im serbischen Fernsehen den Angriffsbefehl aus Brüssel vorgelesen hatte, und mit mir war diebereits erwähnte kanadische Juristin Tiphaine Dickson. Der Gefangene war eine Zeitlangschon Freigänger gewesen, aber damit war esaus, weil beim Gericht in Belgrad inzwischenein zweites Verfahren gegen ihn in derSchwebe war: Er habe mehreren seiner Angestellten Wohnungen verschafft, wozu DragoljubMilanović meinte, wäre es in seiner Macht gewesen, hätte er noch viel mehr seiner Mitarbeiter so geholfen. Er wirkte ein wenig ironisch, als er das sagte, aber viel stärkernoch melancholisch, und das während des ganzen Gesprächs (zu dem nur wenig Zeit eingeräumt war).
Mir schrieb er zuletzt, kyrillisch, ins Notizbuch ein Erzählgedicht, welches von ei- nem Bombenopfer handelte: „Tijana ist eine junge Serbin aus Belgrad...“, und nicht nur da, während jenes langen, Druckbuchstabe um Druckbuchstabe sorgfältigen Aufschreibens, das ein Gutteil der Gesprächszeit sozusagen verschwendete, ging von Dragoljub Milanović etwas Kindliches aus. Unvorstellbar, daß dieser Mensch, in der Epoche des Slobodan Milošević oder wann, ein Mächtiger gewesen war. Doch das konnte täuschen:Waren denn nicht einst während des Studiums bei den obligaten Gefängnisex- oder -inkursionen nicht wenige, nein, fast alle Häftlinge mir harmlos erschienen? Hatten die nicht fast alle, nein, alle, etwas ausgestrahlt – keine Unschuld, sondern etwas, das jenseits von Schuld und Unschuld war? Und war nicht die stärkste solcher Strahlungen gerade von den Mördern, den lebenslänglich Eingesperrten, ausgegangen?
Zu meinem zweiten Besuch im Gefängnisbei Dragoljub Milanović kam es im Juni 2010,zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Dieses Mal war ich mit dem Häftling inder Besucherzelle allein. Wenn er sich in den15 vergangenen Monaten, da seine Situation eher schlimmer, fast hoffnungslos geworden war (auch kaum mehr Besuchserlaubnisse), verändert hatte, so zum womöglich noch Kindlicheren hin – selbst wenn er Bitteres sagte, Verachtung ausdrückte, behielt DragoljubMilanović sein Kindergesicht, große stille Augen, Sanftheit um den Mund, der sich keinmal verzog; als seien Bitterkeit und Verachtung objektiv geworden, Sache, nicht allein seine. Seine einzige Bewegung oder Gebärde blieb jene, welche, so scheint mir jedenfalls, sämtlichen Südslawen gemeinsam ist: ein leichtes Kopfwegdrehen, oder eher -wegbiegen, vergleichbar „unserem“ Augenverdrehen, auch Schulterzucken, und doch wieder ganz und gar nicht – denn es bedeutet,über unser Abfälligwerden oder sonstwas hinaus, auch noch, so scheint es mir jedenfalls wieder, ein: „Das da, und das da, es sollte nicht sein. Es ist lächerlich. Es ist stockdumm. Es ist ein Skandal. – Aber so ist es halt.Was kann man tun? Alles sinnlos...“ Die Hände des seit fast zehn Jahren Eingesperrten lagen während des ganzen Gesprächs bewegungslos auf dem Besuchszellentisch, einestill über der anderen, bis am Ende der Stunden für einen Augenblick sich noch eine dritte Hand darüberlegte.
Ich hatte, mit Hilfe eines Freundes, einigeFragen in der Sprache des Häftlings vorbereitet, und es war dann auch nicht schwierig, dieAntworten zu verstehen. „Was fehlt Ihnen ammeisten?“ – „Die Freunde und die Familie.“ –„Was hoffen Sie?“ – „Nichts.“ – „Warum hat das Volk Sie vergessen?“ – „Die jetzige Regierung hat mich vergessen. Das Volk hat mich nicht vergessen.“ (Angedeutetes Kopfnicken des Gefängnisbeamten, der während des Gesprächs in der zum Flur offenen Tür stand.) –„Weiß das serbische Volk, daß Sie hier sind?“ – „Ja.“ (Lächeln des Beamten.) – „Warum sind gerade Sie das Ziel der Rache geworden?“ – „Der Sender war ein Symbol,
„Was hoffen Sie?“ „Nichts.“ „Warum sind Sie Ziel der Rache geworden?“
ein stärkeres Symbol als Slobodan Milošević.“ – „Ein Symbol wofür?“ – „Daß ein anderer Weg möglich war.“ – „Was für ein anderer?“ – „Ein eigener, nicht westlich, nicht östlich.“ – „Wissen Sie, daß Fußballweltmeisterschaft ist und heute Serbien gegen Deutschland spielen wird?“ – „Nein.“ – „Hören Siehier die serbischen Lieder, die der Senderwährend des Bombenkrieges immer wieder ausgestrahlt hat?“ – „Nein. Ich höre überhaupt keine Musik mehr. Aber manchmal stelle ich mir vor, draußen dort zu stehen, wodie Morawa in die Donau mündet.“ – „HoffenSie wirklich nichts?“ – „Nichts. Aber ich habeeinen Enthusiasmus fürs Leben. Ne nadam seničemu. Ali imam entuzijazam za život.“ – „Fühlen Sie Zorn oder Haß auf die, da unddort Verantwortlichen für Ihre Gefangenschaft?“ – „Nein, nichts als Verachtung. PREZIR.“ Und womöglich noch kindlicher und stiller erschien das Gesicht des Häftlings bei diesem Wort. Es war eine Verachtung, die seine Züge, statt sie zu verzerren, erweiterte.
Zwar wurde Dragoljub Milanović dann von dem Zellenbeamten, der mit dem Schlüsselbund eher bloß so spielte, zurück inden geschlossenen Trakt geführt, aber in derErinnerung jetzt ist mir, als sei er allein dahinzurückgegangen, sämtliche Türen dort offen, wenn auch nur zum Eintreten.
Aber was erzähle ich da? Den Eingekerkerten gibt es doch gar nicht. Dragoljub Milanović, oder einer seines Namens – und es leben oder lebten in Serbien nicht wenige seines Namens –, hat vielleicht einst existiert. Aber er existiert nicht mehr. Erfunden die ferngelenkten Bomben und der ferngelenkte postmoderne Krieg. Vom Winde verweht die zerfetzten Körper. Das Ganze hier nichts als eine Flußwassermusik für Ewiggestrige, Jugonostalgiker, Randfiguren. Existent, und wie!, allein die von vornherein festgestandenhabenden Sieger, beziehungsweise Gewinner. „Existieren“, heißt es übersetzt nicht auch „Draußensein“, oder, freier übersetzt, „Feinheraußensein“? The winner takes it all. Eine Geschichte demnach, erzählt allein den toten Fischen in der toten Donau, den leeren Maiskolben auf den leeren Feldern der Vojvodina.
So höre, Schuhband, zerschlissenes. Hör zu, verrosteter Nußknacker. Hör zu, krumme Nähnadel. Höre, verstaubtes Stofftier. Höre, mein abgewetzter Fußabstreifer. Hör zu, Spiegelbild. ■
Geboren 1942 in Griffen, Kärnten. Lebt inChaville bei Paris. Büchner-Preis, Kafka-Preis, Großer Österreichischer Staatspreis etc. „Die Geschichte des Dragoljub Milanović“ – auf Wunsch des Autors in alter Rechtschreibung –erscheint in erweiterter Form Ende nächster Woche bei Jung und Jung, Salzburg.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2011)
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Die Geschichte von Dragoljub Milanovic
In diesem Jahr der großen Jubiläen wird eines eher nicht oder ungern erwähnt: Vor zehn Jahren ging der sogenannte Kosovo-Krieg, in dem Serbien 78 Tage lang bombardiert wurde, unrühmlich zu Ende. Die für diesen Krieg angeführten Gründe erwiesen sich als genauso erlogen wie im Irakkrieg. Zu Recht hatte diese NATO-Aktion kein UN-Mandat und gilt daher laut Völkerrecht als Angriffskrieg. Für viele Betroffene hält das Unrecht bis heute an - ein exemplarischer Fall sei hier erzählt.
Nach einem im Juli 2000 in vielen Zeitungen aufgegriffenen Bericht von amnesty international war die Bombardierung der Belgrader Sendezentrale des Serbischen Rundfunks und Fernsehens (RTS) als das offensichtlichste Kriegsverbrechen der NATO ins Bewußtsein geraten. Eine juristische Auseinandersetzung mit dieser Gewalttat, die 16 RTS-Mitarbeitern das Leben und vielen anderen die Gesundheit kostete, wurde unumgänglich. Wer aber wurde angeklagt? Die Bomberpiloten? Die militärischen Befehlshaber der NATO? Die verantwortlichen Politiker des Bündnisses?
Neutrale Beobachter können sich das Vorgehen der Belgrader Justizbehörden nur mit dem enormen Druck aus dem Ausland erklären, die NATO moralisch zu entlasten. Dazu mußte ein anderer Schuldiger gefunden werden. Warum sollte nicht zum Beispiel der Fernsehdirektor selbst für den Bombentod seiner Mitarbeiter verantwortlich sein?
Ein Vierteljahr nach dem mal Putsch, mal Volksaufstand genannten Machtwechsel in Belgrad wird er verhaftet, im August 2001 ist die Anklageschrift gegen ihn fertig, und eine Art Schauprozeß kann beginnen. Wegen angeblicher Sicherheitsinteressen ist er nicht öffentlich. Die Vorwürfe gegen Dragoljub Milanovic beziehen sich nicht auf den Inhalt seiner Arbeit als Fernsehchef. Das ist insofern rechtlich von großer Relevanz, als das Kriegsverbechertribunal in Den Haag in einem Bericht darauf hinweist, daß Medien nicht schon zu einem legitimen militärischen Ziel werden, wenn sie die Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung mobilisieren, sondern erst, wenn sie zu Verbrechen anstacheln, wie etwa in Ruanda geschehen. Doch ein solches Vergehen hat weder der einheimische Staatsanwalt dem Fernsehen vorgeworfen, noch hat die NATO sich die Mühe gemacht, ihre allgemeinen Behauptungen über Propaganda mit einem einzigen Beispiel zu belegen.
Milanovic wurde angeklagt, sich während des Krieges nicht an die Vorschriften über Schutzmaßnahmen in den öffentlichen Einrichtungen gehalten und so Menschenleben gefährdet zu haben. Er habe versäumt, im Kriegszustand die Auslagerung der Produktionskapazitäten und das Senden von einem Ersatzstandort anzuordnen. Diesem Vorwurf schlossen sich als Nebenkläger auch Angehörige von zwei Familien an, die Opfer zu beklagen hatten. Der für Sicherheitsfragen zuständige Stellvertreter des Direktors sagte aus, er habe immer wieder versucht, Milanovic von der Nervosität einiger Kollegen und den Vorteilen eines Umzugs zu überzeugen, was dieser aber mit der Begründung abgelehnt habe, daß man im Ausweichquartier genauso gefährdet sei.
Milanovics Frau Ljiljana, selbst Journalistin und gleichsam in Sippenhaft arbeitslos, hat in einem kleinen Verlag einen Dokumentationsband über den Prozeß herausgegeben, so daß Anklage, Verteidigung und Urteil gut nachvollziehbar sind. In seiner ausführlichen Verteidigungsrede hat der Angeklagte Dragoljub Milanovic, sehr verknappt und frei übersetzt, Folgendes erwidert.
Die Verteidigungsrede
Seit der Bombardierung des Gebäudes fühle ich unermeßlichen Schmerz um die Getöteten, als Mensch, als ihr Kollege und Direktor. Ich bin dankbar, daß die Anklage nicht auch behauptet, was die Medien seit Wochen zu wissen glauben: Ich hätte sogar den Zeitpunkt der Bombardierung gewußt und meine Kollegen dem Tode überlassen. In aufgeheizter Atmosphäre wird der Schmerz, der Haß und das Leid der unglücklichen Familien mißbraucht, um mich als Kollaborateur und Mörder zu diffamieren. Dieser Senat muß nun entscheiden unter enormem Druck der manipulierten Öffentlichkeit und der neuen Machthaber, die den Staatsanwälten und Richtern täglich mit Entlassung drohen, sogar den Richtern des Verfassungsgerichtes Jugoslawiens, und die nur auf meine Aburteilung warten. Deshalb liegt es mir fern, die Ehrbarkeit dieses Gerichtes zu verletzen, das ich als das meinige erachte, obwohl ich allein schon das Erscheinen auf der Strafbank als größte Strafe, Ungerechtigkeit und Schande empfinde.
Wenn ich die Anklage richtig verstehe, was nicht leicht ist, weil sie konstruiert und sinnlos ist, sitze ich auf diesem Stuhl, weil ich die Vorschrift 37 nicht in Kraft gesetzt habe. Im Panzerschrank des Senders sind 49 von mir unterschriebene Vorschriften gefunden worden, eine mit der Nummer 37 war nicht auffindbar. Es gab sie nur in einer Computerauflistung. (Der Verteidiger wird später von einer Fälschung sprechen.) Es gibt weder das Original noch eine Kopie mit meiner Unterschrift. Ich weiß nicht, ob es diese Vorschrift je gegeben hat.
Die Anklage erwähnt nicht, daß ich schon lange vor dem Krieg, im April 1998, alle meine Sicherheitsvollmachten an meinen dafür zuständigen Stellvertreter übertragen habe. Er war schon vor meiner Zeit für diesen Bereich zuständig und hatte alle Kontakte zu den örtlichen Organen. Aber selbst die nun von der Anklage vorgelegte Fassung der Vorschrift 37 bestätigt, daß mein Verhalten während des Krieges auch in Unkenntnis dieses Papiers rechtmäßig war. Denn da ist, sogar in Fettschrift, die Klausel vermerkt, daß der RTS-Direktor befugt ist, ein dem Auslagerungsgebot widersprechendes Vorgehen anzuordnen. Das heißt, ich hatte das Recht, nach eigenem Ermessen die Vorschrift 37 außer Kraft zu setzen. Ich hätte mich nur einer staatlichen Aufforderung zur Verlegung des Senders beugen müssen, aber einen solchen Befehl oder auch nur eine Empfehlung habe ich niemals bekommen.
In der Unglücksnacht gab es eher Grund, beruhigt zu sein, da tagsüber der russische Friedensvermittler Viktor Tschernomyrdin in Belgrad war. Nun warteten wir auf sein Statement, in dem er bekannt gab, daß Miloseviæ eine internationale Truppe im Kosovo akzeptiere. Das war für mich einer der Gründe, noch bis spät in die Nacht im Sender zu bleiben. Als die Meldung aus Moskau kam, machten der notdiensthabende Redakteur und ich den Beitrag sendefertig. Gegen 1.30 Uhr habe ich mich nach Hause begeben, und ich verfluche das Schicksal, daß ich nicht noch etwas blieb, weil ich dann im Gegensatz zu meiner jetzigen Marter mit getroffen und so von der Schmach verschont geblieben wäre.
Weshalb hielt ich ein Verbleiben des Senders in den RTS-Studios nach allem Abwägen für richtig? Als staatliches Fernsehen hatten wir den Sendeauftrag, die Information der Bevölkerung über die Kriegsfolgen zu intensivieren. Das wäre aus dem Provisorium eines Bergtunnels nicht möglich gewesen. Der von manchen gewünschten Reduktion der Nachrichtensendungen, Interviews und Reportagen konnte ich nicht zustimmen, weil gerade in der Zeit der Verteidigung des Landes nichts so wichtig ist wie sie.
Noch mehr zählte für mich die schlichte Tatsache, daß es für uns im Krieg überhaupt keinen sicheren Arbeitsort gab. Von jedem Standort hätten wir uns verratende TV-Signale gesendet, und auch im Tunnel hätte uns eine »schlaue Bombe« ausfindig machen können. Wenn der Berg über uns zusammengestürzt wäre, hätte es sogar noch mehr Opfer gegeben.
Unterbewußt vielleicht sogar der Hauptgrund für unser pflichtschuldiges Verharren am Arbeitsort war - ich gebe das ungern zu -, daß wir in der Tiefe unserer Herzen an ein Minimum militärischer Ehre des Gegners geglaubt haben. Am Eingang des dritten Jahrtausends konnte ich mir letztlich nicht vorstellen, daß in unserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde. Und daß die Repressionen nicht ruhen würden, bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selbst zu tragen.
Das Urteil
Das Urteil gegen Dragoljub Milanovic hält fest, er habe leichtfertig angenommen, daß der Tod von Personen nicht eintreten werde. Er wurde für schuldig befunden, die Vorsorgemaßnahmen der jugoslawischen Bundesregierung, die örtliche Auslagerung industrieller und anderer Produktionskapazitäten betreffend, insbesondere die Vorschrift 37, mißachtet zu haben. Nach § 194, Abs. 2 in Verbindung mit §187, Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuches der Republik Serbien wurde er zu einer Haftstrafe von neun Jahren und sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt. Ein zweiter Anklagepunkt, der öffentlich verhandelt wurde, warf ihm das Wirtschaftsvergehen »unerlaubter Devisenbesitz« vor. In einem Panzerschrank waren für den Kauf neuer Technik staatlich zugeteilte Devisen gefunden worden, die dort nicht hätten liegen dürfen. Das ergab zusätzlich acht Monate Haft.
Das Oberste Gericht Serbiens bestätigte die Gesamtstrafe von zehn Jahren und zwei Monaten. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beschuldigte. Er sitzt seit mehr als acht Jahren in Haft.
Diese Art Rechtsprechung, würde sie sich international durchsetzen, stellt letztlich im Falle eines als »friedenerzwingende Maßnahme« ausgewiesenen Angriffskrieges alles unter Strafe, was nicht einer bedingungslosen Kapitulation gleichkommt. Der Kosovo-Krieg ist bis heute weder zeitgeschichtlich, noch juristisch, noch rechtsphilosophisch aufgearbeitet. Aber manche Einzelheiten sind bekannt geworden. Knapp ein Jahr nach dem Krieg sagte der damalige britische Premierminister Tony Blair in einem Interview, der Angriff auf RTS sei notwendig gewesen, weil auch westliche Sender die Videos von zivilen Opfern übernommen hätten. »Das ist eines der Probleme, wenn man in einer modernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft Krieg führt. Uns war klar, daß diese Bilder auftauchen und eine instinktive Sympathie für die Opfer bewirken würden.« RTS wurde bombardiert, weil die Weltöffentlichkeit nicht erfahren sollte, was damals in Jugoslawien wirklich geschah.
In ihrem neuen Buch »Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen« (Rowohlt Verlag, 302 Seiten, 18.90 €) befaßt sich Daniela Dahn in dem Kapitel »Mein erster Angriffskrieg« ausführlich mit dem Krieg vor zehn Jahren, mit den Lügen und den Folgen. Ossietzky wird noch näher über das Buch berichten.
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Die Geschichte des Dragoljub Milanović
05.08.2011 | 15:30 | Von Peter Handke (Die Presse)
Der vergessene Gefangene oder: Der Fall des Serben Dragoljub Milanović, der nach einem absurden Gerichtsurteil seit bald zehn Jahren in einem Gefängnis nahe Belgrad sitzt.
Es ist hier eine Geschichte zu erzählen. Nur weiß ich nicht, wem. Mir scheint, es gebe keinen Adressatenfür diese Geschichte, jedenfalls nicht in der Mehrzahl, und nicht einmal in der Einzahl. Mir ist auch, es sei zu spät, sie zu erzählen; der Zeitpunkt verpaßt. Und trotzdem ist es eine dringende Geschichte. Der Meister Eckhart spricht einmal von seinem Bedürfnis zu predigen, das so stark sei, daß er, fände er für seine Predigt kein Gegenüber, seine Predigt – wenn ich mich recht erinnere – notfalls auch an einen „Opferstock“richten würde. Hier handelt es sich um keine Predigt, sondern, wie gesagt, um eine Geschichte. Aber auch die wäre notfalls einem Holzstoß oder einem leeren Schneckenhaus zu erzählen oder gar, wie im übrigen nicht zum ersten Male, mir hier ganz allein.
Es ist die Geschichte des Dragoljub Milanović, des ehemaligen Direktors von RTS (Radio-Televizija Srbije), dem serbischen Radio und Fernsehen. Seit neun Jahren ist er Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes, wegen des nächtlichen Bombenbeschusses der Nato auf die TV-Anstalt am 23. April 1999, etwa vier Wochen nach Beginn desKrieges gegen den Staat, welcher damalsnoch „Bundesrepublik Jugoslawien“ hieß:16 tote Angestellte des Senders, und ebensoviele Verletzte.
Dragoljub Milanović ist bis heute die einzige Person, die für die Ereignisse des Kriegesder „Nordatlantischen Verteidigungsorganisation“ gegen Jugoslawien – eines Krieges, derbei den unvermeidlichen Siegern, und inzwischen nicht nur bei diesen, sondern auch in der Terminologie der offiziellen westlichen Geschichtsschreibung, den Namen „Intervention im Kosovo“ trägt –, Dragoljub Milanović ist bis heute die einzige Person, die als Folge jener Intervention im Kosovo angeklagt, verurteilt (beides von der Staatsanwaltschaft und von einem Gericht seines eigenen,von den Westmächten besiegten Landes) undfür fast zehn Jahre eingesperrt worden ist.
Zwar haben die Angehörigen der Opfer der nächtlichen Bombe auf das staatlicheserbische Fernsehgebäude beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg einen Prozeß gegen die Täter beantragt. Aber das Gericht hat sich umgehend für unzuständig erklärt; als Gerichtshof für Menschenrechte sei es zuständig einzig für Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Territorien der dessen verdächtigten Staaten; und da dieBombe in einem anderen Land, also exterritorial, getötet habe, komme der Europäische Gerichtshof für einen Prozeß nicht in Frage (oder so ähnlich).
Ebenso entschied dann ein Jahr später das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag, daß die „Fehler“ der Nato bei deren Intervention im Kosovo, wozu der Angriff auf das Belgrader Fernsehen gehört habe (oder so ähnlich), keine Kriegsverbrechen seien. Dem-
Dragoljub Milanović: verantwortlichfür die 16 Toten in der TV-Anstalt?
nach war für die Geschehnisse der Nachtdes 23. April 1999 auch in Holland der Prozeßweg ausgeschlossen.
Dafür wurde, zwei Jahre nach der Bombeauf das serbische Fernsehen, dessen – inzwischen ehemaligem – Direktor, als dem Verantwortlichen für die 16 Toten und die ebenso vielen Verletzten, von einem Belgrader Distriktsgericht der Prozeß gemacht. Dieses Verfahren, so ausdrücklich das Tribunal, sei vollkommen unabhängig zu führen von demKrieg, welcher „zur Tatzeit“ Tag und (vor allem) Nacht aus 5000 Meter Höhe gegen das Land im Gange war, und habe vor allem nichts zu schaffen mit irgendwelchen etwaigen Kriegsverbrechen der Bombenzentrale im fernen Brüssel. Es wurde einzig verhandeltgegen Dragoljub Milanović, den Mann, dem vorgeworfen wurde, für seine ihm untergebenen Angestellten, fahrlässig oder womöglich gar absichtlich, die nötigen Sicherheitsvorkehrungen versäumt zu haben. Für einen solchen Tatbestand fand sich der entsprechendeParagraph im Strafgesetzbuch der Republik Serbien. (Zu all den Zahlen in dieser Geschichte noch § 194, Absatz 1 und 2.) Verstehtsich wieder, daß auch Paragraph samt Tatbestand im Prozeß unabhängig davon zu betrachten waren, ob zur Tatzeit Krieg herrschte oder was für eine Art von Krieg. Devise: Ein Hirngespinst, wenn es amtlich wird und Arm der Macht, findet immer einen Gesetzesparagraphen, welcher es auf die Sprünge bringt – es realisiert; mit anderen Worten: in den Schein eines Rechts setzt.
Der hauptsächliche Schuldbeweis gegen den einstigen Fernsehdirektor: ein Zettel miteiner Anweisung von der ihm übergeordneten staatlichen Stelle, den Sender samt dessenMitarbeitern von seinem Standort mitten in der – da noch bundesjugoslawischen – Haupt-stadt „auszulagern“. Es sei nicht auszuschließen, daß der Sender (obwohl, nach Genfer und sonstwelcher Konvention, ein „ziviles Objekt“ und als solches von Kriegshandlungen zu verschonen) zum Bombenziel, zum „target“, bestimmt werde.
Diese Anweisung, ein Zettel ohne Herkunftssignum, anonym, ohne Unterschrift,auch ohne die Unterschrift des Adressaten Milanović, mit der dieser sämtliche Anweisungen der ihm übergeordneten Stelle in jenen Monaten zur Kenntnis genommen hatte,genügte dem Gericht für den Schuldspruch. Dabei handelte es sich nicht einmal um eine regelrechte „Anweisung“. Diese war so gehalten,daß es dem Angewiesenen, also dem Direktor, freistand, auch eine Entscheidung gegen das Verlagern des Senders (ob in eine Berghöhle oder einen Tunnel) zu treffen. Der anonyme, irgendwie auf irgendwelches Papier getippte Zettel war stattdessen groß begleitet von einer Zahl, der Zahl 37 (wieder eine Zahl).
Gab es aber nicht Anzeichen, die denDragoljub Milanović zu einem Verlagern desSenders unter dem Bombenhimmel hätten bewegen können, oder gar müssen, und zwaraus Eigenem, ohne jene obskure Anweisung? Hatte denn nicht schon nach den ersten ein, zwei Bombenwochen einer der Fernkrieger, der englische Premierminister Anthony „To- ny“ Blair, welcher verlautbarte, daß solche Stationen „Teil des diktatorischen Apparats ... sind, ... benutzt, um die ethnischen Säuberungen im Kosovo zu betreiben“, dazu lautgedacht, „diese staatlich kontrollierten Medien“ seien ein „richtiges und berechtigtes Ziel“? Und hatte nicht ebenso der Präsident der Vereinigten Staaten, William „Bill“ Clinton, zu verstehen gegeben, das serbische Fernsehen werde benutzt „für die Verbreitung von Haß und Desinformation“ und sei kein „Medium im überkommenen Sinn“?
Die Geschichte des Dragoljub Milanović ist schon öfter erzählt worden, ausführlicher,zum Beispiel von der deutschen Publizistin Daniela Dahn in einem Kapitel ihres Buches „Wehe dem Sieger!“, völkerrechtlich betrachtet und juristisch gestützt zum Beispiel von der kanadischen Advokatin Tiphaine Dickson, welche belegt hat, daß das serbische staatliche Fernsehen selbst in den bomben-
Anklagepunkt: Milanović hätte den Fernsehsender „auslagern“ müssen
intensiven Tagen und Nächten des Nato-Krieges keinen einzigen Moment lang zu Haßoder ethnischer Säuberung angestachelt oderdergleichen auch nur unterschwellig suggeriert hat. Die erwähnten Fernbomber hätten das bloß pauschal behauptet, ohne auch nur ein einziges Indiz in ihr Spiel zu bringen. Dem Tony und dem Bill genügte es vielmehr,daß das serbische Fernsehen dokumentarische Bilder, unterlegt mit einem Berichtston,von den „Luftschlägen“ sendete, samt all denzivilen Kollateralopfern – es gab fast nur solche, zuguterletzt an die 2000 (zweitausend) –,und das völkerrechtlich geschützte Zivilobjekt RTS gab ein berechtigtes „Ziel“ ab; es brauchte nicht einmal der übliche Kollateralirrtum fingiert zu werden.
Ich, der ich die Geschichte des DragoljubMilanović – immer wieder sei dieser Name erwähnt, damit er sich einpräge über die Aktualitäten hinaus – hier weitererzähle (Gott gebe es, nicht als Letzter), selbst wenn ich sieeinem Baumstrunk erzählen müßte, oder einem Einbaum, oder einem verrostetenSchienenstrang, war im Frühjahr 1999, während der drei Monate des vollkommen unilateralen Bombenkrieges (jedwede Gegenwehr undenkbar) zweimal für jeweils etwa eine Woche im unablässig bombardierten Land, habe dort regelmäßig das staatliche Fernsehen „geschaut“ und bezeuge, daß nichtein einziges der damals gezeigten Bilderund/oder Tonbilder, auf eine beinah unfaßbare Weise bei allen den zentralen Zerstörungen und tangentialen Menschenzerfetzungen, etwas wie Tendenz oder Propaganda, geschweige denn Haß oder Rachsucht ausstrahlte; es sei denn, Kummer, Trauer undinsbesondere Fassungslosigkeit, welche von jenen Dokumenten ausgingen, in eins mit der unerhörten, noch nie und nirgends so gehörten Tonlosigkeit der Berichtsstimmen, wären zu verdächtigen gewesen als eine neuartige und besonders raffinierte Spielart diktatorischer Propaganda oder gar Volksverhetzung. Aber konnten die Bild- und Tonsequenzen, die sich in der Regel, und das Tag und Nacht im Rhythmus der Raketeneinschläge, Sirenen und dann der Stille, mit den Dokumenten der Vernichtung abwechselten, nicht als Indizien für jene „Desinformation“ angesehen werden, die, nach dem amerikanischen Präsidenten, im Widerspruch standen zu dem, was für ein Medium rechtens war? Denn diese Bilderfolgen zeigten jeweils, in Farben, und was für welchen, ein unzerstörtes Serbien/Bundesjugoslawien, vorwiegend die Natur, die ländliche, und von den Städten die Sehenswürdigkeiten; und wenn Leute auftraten, so tanzten sie, den ewigen balkanesischen Rundtanz, oder sie sangen, einzeln oder im Chor, die sattsam bekannten Lieder von den Flußgegenden der Drina, der Save, der Donau, der Morawa. Machte da das staatliche Fernsehen, und das mitten im Krieg, dem selbstverschuldeten, nicht eindeutig Propaganda für das Land, für dessen Schönheit, für dessen Formen, Farben und Weisen? Ein Staat, Tag und Nacht unterm Bombenhimmel, strahlte Tag und Nacht, im Wechsel mit den zersplitterten Fernheizwerken und verbrannten Personenzügen, die heile Welt aus. Solch ein Fernsehen, solch ein Medium, hatte es noch nie gegeben, und würde es nie wieder geben. Wenn das nicht Desinformation war, was dann? Wenn solch eine Anstalt kein Kriegsziel war, was dann? Ein Volk, welches da dargestellt wurde als ein ganz besonderes, einmaliges, unvergleichliches, nachall den Bombennächten den Tag feierndes: War das nicht eine eindeutige Aufforderung zu Vertreibung und Mord sämtlicher anderer Völker?
Daß Dragoljub Milanović überzeugt war vom Gegenteil, von der Unschuld, der Zivilisiertheit, ja der Rechtlichkeit der von ihm als dem Leiter des Senders verantworteten Bild- und Tonfolgen: das konnte und kann ihm vielleicht zum „Vorwurf“ gemacht werden – und wenn, dann aber jenseits von jeglicher „Schuld“ und gar „Sühne“. Abgesehen davon,
In den letzten zwei Jahren besuchte ich Milanović zweimal in der Haft
daß bei einer Verlagerung des Senders in einen Bergstollen die neunmalklugen westeuropäischen und amerikanischen Bomben auch diesen Ort durch die von ihm ausgehenden Signale ausfindig gemacht hätten, mit dem Erfolg von vielleicht neunmal so vielen Opfern: Dragoljub Milanović, wie er vor seiner Verurteilung durch das Gericht seines Heimatlandes zweieinhalb Jahre nach der Bombe auf seine Anstalt erzählte, war nicht imstande gewesen, sich „vorzustellen, daß inunserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde“, „am Eingang des dritten Jahrtausends“. Und er hatte sich nicht vorstellen können, daß danach die Repression solange weitergehen würde, „bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selber zu tragen“. Und er gab zu (sic), wenn auch „ungern“: „Der Hauptgrund für unser pflichtschuldigesAusharren am Arbeitsort war, daß wir in der Tiefe unseres Herzens an ein Minimum militärischer Ehre des Gegners geglaubt haben.“ Zu diesem „Glauben“, den man vielleicht richtiger mit „Überzeugung, tiefinnerer“,übersetzt, noch ein paar Zahlen: Die nie und nirgends angekündigte Bombe, oder ferngelenkte Präzisionsrakete, spaltete, chirurgisch sauber, ohne an dem Kindergarten und den Kirchen in der Nähe nennenswerte Schäden anzurichten, das eher schmale und nicht sehr hohe – zwei oder drei Stockwerke nach meiner Erinnerung – Gebäude des serbischen Fernsehens, am Rande eines großenParks gelegen, in der Nacht des 23. April 1999um zwei Uhr vier, und Dragoljub Milanović, als der Direktor, hatte noch bis kurz davor im Sender gearbeitet.
Gab es einen anderen, „richtigen“ Ort? Einzige Alternative für den Sender des bekriegten Landes: das Senden völlig einzustellen, von sich aus, aus freien Stücken, sozusagen? Und nur so wäre das eindeutig gezielte, nicht „kollaterale“ Töten zu verhindern gewesen, und Dragoljub Milanović, als Nicht-Leiter eines Nicht-Senders, aus dem Schneider, sozusagen?
Es bleibt hier noch, in der Geschichte desDragoljub Milanović – Geschichte, die seine ist und, eher noch, das Gegenteil – zwei Orte zu erzählen. Der eine ist der große, leicht abschüssige Park mitten in Belgrad, mit dem Gebäude des serbischen Radio-Fernsehens an einem der Säume. Der andere ist die Gefängnisanlage etwa 60 Kilometer östlich der serbischen Hauptstadt, vielleicht zehn Kilometer nördlich der Provinzstadt Požarevac, wo der ehemalige TV-Direktor seit inzwischen etwa zehn Jahren in Haft ist, und wo ich ihn in den letzten zwei Jahren zweimal besucht habe.
Es muß Ende Mai 1999 gewesen sein, vierWochen nach dem nächtlichen Raketenbeschuß und drei Wochen vor dem Ende der atlantischen Intervention, daß ich nach einemmorgendlichen Zickzack durch den Park,mir scheint jetzt, eher unversehens, vor dem zerstörten Sender stand. Es stimmte: Das BelgraderKindertheater, ebenso wiedas oder die Gotteshäuser unmittelbar danebenwirkten in der Umgebung des, eher kleinen, Trümmerhaufens unversehrt,und so vielleicht besonders unversehrt, oder umgekehrt erschienen die Trümmer inmitten des wie unangetasteten Kulturguts besonders zertrümmert. Dazu trugen wohl auch die warme Sonne, der blaue Himmel und das sanfte friedliche Wehen der Maienluft bei. Weidenflaum trieb still dahin. Pappelflaum war in flauschig-silbrigen Wellen angeweht unten an die Trümmerstätte, und wer da die Hände hineingetaucht hätte, wäre von dem Flausch bis auf die Knochen gewärmt worden. Oben zuckten die Schwalben, laste, serbisch, lastovice, slowenisch, aus dem Blau und spielten mit sich selber, miteinander und mit den Sonnenstrahlen.
Mit mir standen noch andere Parkbesucher vor dem mit Seilen abgesicherten Objekt. Dieses war eine Ruine, wie es sie vor diesem speziellen Krieg – der nicht „Krieg“ heißen durfte, obwohl die Sieger sich „Sieger“ nannten – noch nirgends gegeben hatte: einesozusagen postmoderne Ruine, außen heil, oder hui, und innen hin wie nur etwas, Ruineauf klassisch, wenn nicht klassischer noch als klassisch. Zu meiner Rechten wie zur Linken versammelten sich mit der Zeit mehr und mehr Leute, und das waren keine Schaulustigen. Und doch waren sie spürbar gekommen,um zu schauen; um aufzunehmen, um da zu sein; um dagewesen zu sein. Keiner sagte ein Wort. Einige standen und schauten nur kurz –aber wie! –, und gingen stumm wieder weg, kehrten um, wohin auch immer. Auf Fragen hätten sie allesamt nicht geantwortet, nicht einmal den Kopf geschüttelt, höchstensdurch den Frager durchgeschaut. Und schongar nicht hätten sie geantwortet auf eine Frage nach der Schuld, nach dem oder nach den Schuldigen. Selbst die offensichtlichen Killer hatten sie nicht im Sinn, weder den Knopfdrücker in seiner himmelhohen Bomberkanzel, noch die Knopfdrückerchefs fern in ihrem 19-Sterne-Hotel, und schon gar nicht...,und nicht einmal... Was freilich gab es da zuschauen? Und wie konnten all diese Leute, keine „Serben“, oder „Jugoslawen“, nichts als„Leute“, überhaupt etwas sehen, geschweigedenn bezeugen, bei all dem Nassen, Feuchten, Flüssigen, Konturverwischenden? In undvor den Augen? „Einer mußte schuldig sein!“?Das galt da einmal nicht, und nicht, und wieder nicht.
Was sich dagegen zeigte, das war, jenseitsdes Landes und jenseits des Balkans, wie nurje, etwas Universelles: ein universeller Kummer; das Universum des Kummers. Aber selbstverständlich mußte in der Folge auch Recht gesprochen werden. Nur wie? Und gegen wen? Zwar hat ein Gericht, ein anderes, in Belgrad die Fernlenker im Westen noch in den Kriegsmonaten zu Haftstrafen, etwa in der Höhe der zehn Jahre später „für“ Dragoljub Milanović, sozusagen verurteilt. Doch dieses Urteil ist nie vollstreckt worden, und wirdnach, wie sagt man, menschlichem Ermessen nie vollstreckt werden – wie denn auch? Also mußte doch einer (1) schuldig sein, und zwar einer, der, wie man sagt, zur Hand war. Einer mußte schuldig sein! Mußte er?
Nicht nur die Gebäude im Umkreis der Anstalt waren unversehrt geblieben, sondernauch der eine Einzelbaum rindennah an dennun scheibenlosen Sender-Fenstern. In meiner Erinnerung ist es eine Birke, eine nicht besonders hohe. Frische Blätter treiben da aus in der Maiensonne, ein hellgrünes Leuchten im wolkenlosen Himmelblau, und zwischen den Blättern in der Maienbrise ein ständiges Glitzern, Flittern und Flackern, vonden ersten Ästen unten bis hinauf in die Kronen, und dort oben besonders deutlich: die ganze Birke ist über und über behängt mit Spiralen von Tonbändern, welche wie die jungen Birkenblätter in einer ständigen, nur andersartigen Bewegung sind – als speziel-
le Girlanden in einem fort hin und herschwingen, auf und ab schaukeln, sich zärtlich um die zarten Birkenzweiglein schlängeln. Der Luftdruck, oder was, beim Einschlag der chirurgischen Bombe, oder so, hat sie weg von den Montagetischen unten in den Senderkellern, oder wo, durch die geborstenen Scheiben hinauf und hinaus in den vor Wochen wohl fast noch kahlen Baumgeschleudert, und jetztläßt der Frühling, zwischen den grünen Birkenblättern, diese andersgrünen Bänder durch die Lüfte wehen. Unhörbarund unschädlich gemachtso all die Greuelpropaganda, die Kriegslügen und insbesondere dieDurchhaltegesänge, mobilgemacht aus sechsJahrhunderten eines bloß eingebildetenDurchhaltens, und mobilgemacht eindeutigfür Angriffszwecke, für Vertreibung, für Völkermord. Diese herrenlosen Bänder bedeuten: Da ist nichts mehr durchzuhalten. Weitergehen. Den Platz räumen. Die da ihre Finger im Spiel hatten, die gibt's nicht mehr, mitsamt den Fingern.
le Girlanden in einem fort hin und herschwingen, auf und ab schaukeln, sich zärtlich um die zarten Birkenzweiglein schlängeln. Der Luftdruck, oder was, beim Einschlag der chirurgischen Bombe, oder so, hat sie weg von den Montagetischen unten in den Senderkellern, oder wo, durch die geborstenen Scheiben hinauf und hinaus in den vor Wochen wohl fast noch kahlen Baumgeschleudert, und jetztläßt der Frühling, zwischen den grünen Birkenblättern, diese andersgrünen Bänder durch die Lüfte wehen. Unhörbarund unschädlich gemachtso all die Greuelpropaganda, die Kriegslügen und insbesondere dieDurchhaltegesänge, mobilgemacht aus sechsJahrhunderten eines bloß eingebildetenDurchhaltens, und mobilgemacht eindeutigfür Angriffszwecke, für Vertreibung, für Völkermord. Diese herrenlosen Bänder bedeuten: Da ist nichts mehr durchzuhalten. Weitergehen. Den Platz räumen. Die da ihre Finger im Spiel hatten, die gibt's nicht mehr, mitsamt den Fingern.
Mein erster Besuch bei dem Häftling DragoljubMilanović fand statt im März 2009, zehn Jahre nach den Raketen auf die Bundesrepublik Jugoslawien. Ich kam nicht allein. Zum Gefängnis brachte mich der Anwalt Milanović', der im übrigen während dessen Amtszeit Nachrichtensprecher gewesen war und am 24. März 1999, um 20 Uhr, im serbischen Fernsehen den Angriffsbefehl aus Brüssel vorgelesen hatte, und mit mir war diebereits erwähnte kanadische Juristin Tiphaine Dickson. Der Gefangene war eine Zeitlangschon Freigänger gewesen, aber damit war esaus, weil beim Gericht in Belgrad inzwischenein zweites Verfahren gegen ihn in derSchwebe war: Er habe mehreren seiner Angestellten Wohnungen verschafft, wozu DragoljubMilanović meinte, wäre es in seiner Macht gewesen, hätte er noch viel mehr seiner Mitarbeiter so geholfen. Er wirkte ein wenig ironisch, als er das sagte, aber viel stärkernoch melancholisch, und das während des ganzen Gesprächs (zu dem nur wenig Zeit eingeräumt war).
Mir schrieb er zuletzt, kyrillisch, ins Notizbuch ein Erzählgedicht, welches von ei- nem Bombenopfer handelte: „Tijana ist eine junge Serbin aus Belgrad...“, und nicht nur da, während jenes langen, Druckbuchstabe um Druckbuchstabe sorgfältigen Aufschreibens, das ein Gutteil der Gesprächszeit sozusagen verschwendete, ging von Dragoljub Milanović etwas Kindliches aus. Unvorstellbar, daß dieser Mensch, in der Epoche des Slobodan Milošević oder wann, ein Mächtiger gewesen war. Doch das konnte täuschen:Waren denn nicht einst während des Studiums bei den obligaten Gefängnisex- oder -inkursionen nicht wenige, nein, fast alle Häftlinge mir harmlos erschienen? Hatten die nicht fast alle, nein, alle, etwas ausgestrahlt – keine Unschuld, sondern etwas, das jenseits von Schuld und Unschuld war? Und war nicht die stärkste solcher Strahlungen gerade von den Mördern, den lebenslänglich Eingesperrten, ausgegangen?
Zu meinem zweiten Besuch im Gefängnisbei Dragoljub Milanović kam es im Juni 2010,zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Dieses Mal war ich mit dem Häftling inder Besucherzelle allein. Wenn er sich in den15 vergangenen Monaten, da seine Situation eher schlimmer, fast hoffnungslos geworden war (auch kaum mehr Besuchserlaubnisse), verändert hatte, so zum womöglich noch Kindlicheren hin – selbst wenn er Bitteres sagte, Verachtung ausdrückte, behielt DragoljubMilanović sein Kindergesicht, große stille Augen, Sanftheit um den Mund, der sich keinmal verzog; als seien Bitterkeit und Verachtung objektiv geworden, Sache, nicht allein seine. Seine einzige Bewegung oder Gebärde blieb jene, welche, so scheint mir jedenfalls, sämtlichen Südslawen gemeinsam ist: ein leichtes Kopfwegdrehen, oder eher -wegbiegen, vergleichbar „unserem“ Augenverdrehen, auch Schulterzucken, und doch wieder ganz und gar nicht – denn es bedeutet,über unser Abfälligwerden oder sonstwas hinaus, auch noch, so scheint es mir jedenfalls wieder, ein: „Das da, und das da, es sollte nicht sein. Es ist lächerlich. Es ist stockdumm. Es ist ein Skandal. – Aber so ist es halt.Was kann man tun? Alles sinnlos...“ Die Hände des seit fast zehn Jahren Eingesperrten lagen während des ganzen Gesprächs bewegungslos auf dem Besuchszellentisch, einestill über der anderen, bis am Ende der Stunden für einen Augenblick sich noch eine dritte Hand darüberlegte.
Ich hatte, mit Hilfe eines Freundes, einigeFragen in der Sprache des Häftlings vorbereitet, und es war dann auch nicht schwierig, dieAntworten zu verstehen. „Was fehlt Ihnen ammeisten?“ – „Die Freunde und die Familie.“ –„Was hoffen Sie?“ – „Nichts.“ – „Warum hat das Volk Sie vergessen?“ – „Die jetzige Regierung hat mich vergessen. Das Volk hat mich nicht vergessen.“ (Angedeutetes Kopfnicken des Gefängnisbeamten, der während des Gesprächs in der zum Flur offenen Tür stand.) –„Weiß das serbische Volk, daß Sie hier sind?“ – „Ja.“ (Lächeln des Beamten.) – „Warum sind gerade Sie das Ziel der Rache geworden?“ – „Der Sender war ein Symbol,
„Was hoffen Sie?“ „Nichts.“ „Warum sind Sie Ziel der Rache geworden?“
ein stärkeres Symbol als Slobodan Milošević.“ – „Ein Symbol wofür?“ – „Daß ein anderer Weg möglich war.“ – „Was für ein anderer?“ – „Ein eigener, nicht westlich, nicht östlich.“ – „Wissen Sie, daß Fußballweltmeisterschaft ist und heute Serbien gegen Deutschland spielen wird?“ – „Nein.“ – „Hören Siehier die serbischen Lieder, die der Senderwährend des Bombenkrieges immer wieder ausgestrahlt hat?“ – „Nein. Ich höre überhaupt keine Musik mehr. Aber manchmal stelle ich mir vor, draußen dort zu stehen, wodie Morawa in die Donau mündet.“ – „HoffenSie wirklich nichts?“ – „Nichts. Aber ich habeeinen Enthusiasmus fürs Leben. Ne nadam seničemu. Ali imam entuzijazam za život.“ – „Fühlen Sie Zorn oder Haß auf die, da unddort Verantwortlichen für Ihre Gefangenschaft?“ – „Nein, nichts als Verachtung. PREZIR.“ Und womöglich noch kindlicher und stiller erschien das Gesicht des Häftlings bei diesem Wort. Es war eine Verachtung, die seine Züge, statt sie zu verzerren, erweiterte.
Zwar wurde Dragoljub Milanović dann von dem Zellenbeamten, der mit dem Schlüsselbund eher bloß so spielte, zurück inden geschlossenen Trakt geführt, aber in derErinnerung jetzt ist mir, als sei er allein dahinzurückgegangen, sämtliche Türen dort offen, wenn auch nur zum Eintreten.
Aber was erzähle ich da? Den Eingekerkerten gibt es doch gar nicht. Dragoljub Milanović, oder einer seines Namens – und es leben oder lebten in Serbien nicht wenige seines Namens –, hat vielleicht einst existiert. Aber er existiert nicht mehr. Erfunden die ferngelenkten Bomben und der ferngelenkte postmoderne Krieg. Vom Winde verweht die zerfetzten Körper. Das Ganze hier nichts als eine Flußwassermusik für Ewiggestrige, Jugonostalgiker, Randfiguren. Existent, und wie!, allein die von vornherein festgestandenhabenden Sieger, beziehungsweise Gewinner. „Existieren“, heißt es übersetzt nicht auch „Draußensein“, oder, freier übersetzt, „Feinheraußensein“? The winner takes it all. Eine Geschichte demnach, erzählt allein den toten Fischen in der toten Donau, den leeren Maiskolben auf den leeren Feldern der Vojvodina.
So höre, Schuhband, zerschlissenes. Hör zu, verrosteter Nußknacker. Hör zu, krumme Nähnadel. Höre, verstaubtes Stofftier. Höre, mein abgewetzter Fußabstreifer. Hör zu, Spiegelbild. ■
Geboren 1942 in Griffen, Kärnten. Lebt inChaville bei Paris. Büchner-Preis, Kafka-Preis, Großer Österreichischer Staatspreis etc. „Die Geschichte des Dragoljub Milanović“ – auf Wunsch des Autors in alter Rechtschreibung –erscheint in erweiterter Form Ende nächster Woche bei Jung und Jung, Salzburg.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2011)
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Die Geschichte von Dragoljub Milanovic
In diesem Jahr der großen Jubiläen wird eines eher nicht oder ungern erwähnt: Vor zehn Jahren ging der sogenannte Kosovo-Krieg, in dem Serbien 78 Tage lang bombardiert wurde, unrühmlich zu Ende. Die für diesen Krieg angeführten Gründe erwiesen sich als genauso erlogen wie im Irakkrieg. Zu Recht hatte diese NATO-Aktion kein UN-Mandat und gilt daher laut Völkerrecht als Angriffskrieg. Für viele Betroffene hält das Unrecht bis heute an - ein exemplarischer Fall sei hier erzählt.
Nach einem im Juli 2000 in vielen Zeitungen aufgegriffenen Bericht von amnesty international war die Bombardierung der Belgrader Sendezentrale des Serbischen Rundfunks und Fernsehens (RTS) als das offensichtlichste Kriegsverbrechen der NATO ins Bewußtsein geraten. Eine juristische Auseinandersetzung mit dieser Gewalttat, die 16 RTS-Mitarbeitern das Leben und vielen anderen die Gesundheit kostete, wurde unumgänglich. Wer aber wurde angeklagt? Die Bomberpiloten? Die militärischen Befehlshaber der NATO? Die verantwortlichen Politiker des Bündnisses?
Neutrale Beobachter können sich das Vorgehen der Belgrader Justizbehörden nur mit dem enormen Druck aus dem Ausland erklären, die NATO moralisch zu entlasten. Dazu mußte ein anderer Schuldiger gefunden werden. Warum sollte nicht zum Beispiel der Fernsehdirektor selbst für den Bombentod seiner Mitarbeiter verantwortlich sein?
Ein Vierteljahr nach dem mal Putsch, mal Volksaufstand genannten Machtwechsel in Belgrad wird er verhaftet, im August 2001 ist die Anklageschrift gegen ihn fertig, und eine Art Schauprozeß kann beginnen. Wegen angeblicher Sicherheitsinteressen ist er nicht öffentlich. Die Vorwürfe gegen Dragoljub Milanovic beziehen sich nicht auf den Inhalt seiner Arbeit als Fernsehchef. Das ist insofern rechtlich von großer Relevanz, als das Kriegsverbechertribunal in Den Haag in einem Bericht darauf hinweist, daß Medien nicht schon zu einem legitimen militärischen Ziel werden, wenn sie die Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung mobilisieren, sondern erst, wenn sie zu Verbrechen anstacheln, wie etwa in Ruanda geschehen. Doch ein solches Vergehen hat weder der einheimische Staatsanwalt dem Fernsehen vorgeworfen, noch hat die NATO sich die Mühe gemacht, ihre allgemeinen Behauptungen über Propaganda mit einem einzigen Beispiel zu belegen.
Milanovic wurde angeklagt, sich während des Krieges nicht an die Vorschriften über Schutzmaßnahmen in den öffentlichen Einrichtungen gehalten und so Menschenleben gefährdet zu haben. Er habe versäumt, im Kriegszustand die Auslagerung der Produktionskapazitäten und das Senden von einem Ersatzstandort anzuordnen. Diesem Vorwurf schlossen sich als Nebenkläger auch Angehörige von zwei Familien an, die Opfer zu beklagen hatten. Der für Sicherheitsfragen zuständige Stellvertreter des Direktors sagte aus, er habe immer wieder versucht, Milanovic von der Nervosität einiger Kollegen und den Vorteilen eines Umzugs zu überzeugen, was dieser aber mit der Begründung abgelehnt habe, daß man im Ausweichquartier genauso gefährdet sei.
Milanovics Frau Ljiljana, selbst Journalistin und gleichsam in Sippenhaft arbeitslos, hat in einem kleinen Verlag einen Dokumentationsband über den Prozeß herausgegeben, so daß Anklage, Verteidigung und Urteil gut nachvollziehbar sind. In seiner ausführlichen Verteidigungsrede hat der Angeklagte Dragoljub Milanovic, sehr verknappt und frei übersetzt, Folgendes erwidert.
Die Verteidigungsrede
Seit der Bombardierung des Gebäudes fühle ich unermeßlichen Schmerz um die Getöteten, als Mensch, als ihr Kollege und Direktor. Ich bin dankbar, daß die Anklage nicht auch behauptet, was die Medien seit Wochen zu wissen glauben: Ich hätte sogar den Zeitpunkt der Bombardierung gewußt und meine Kollegen dem Tode überlassen. In aufgeheizter Atmosphäre wird der Schmerz, der Haß und das Leid der unglücklichen Familien mißbraucht, um mich als Kollaborateur und Mörder zu diffamieren. Dieser Senat muß nun entscheiden unter enormem Druck der manipulierten Öffentlichkeit und der neuen Machthaber, die den Staatsanwälten und Richtern täglich mit Entlassung drohen, sogar den Richtern des Verfassungsgerichtes Jugoslawiens, und die nur auf meine Aburteilung warten. Deshalb liegt es mir fern, die Ehrbarkeit dieses Gerichtes zu verletzen, das ich als das meinige erachte, obwohl ich allein schon das Erscheinen auf der Strafbank als größte Strafe, Ungerechtigkeit und Schande empfinde.
Wenn ich die Anklage richtig verstehe, was nicht leicht ist, weil sie konstruiert und sinnlos ist, sitze ich auf diesem Stuhl, weil ich die Vorschrift 37 nicht in Kraft gesetzt habe. Im Panzerschrank des Senders sind 49 von mir unterschriebene Vorschriften gefunden worden, eine mit der Nummer 37 war nicht auffindbar. Es gab sie nur in einer Computerauflistung. (Der Verteidiger wird später von einer Fälschung sprechen.) Es gibt weder das Original noch eine Kopie mit meiner Unterschrift. Ich weiß nicht, ob es diese Vorschrift je gegeben hat.
Die Anklage erwähnt nicht, daß ich schon lange vor dem Krieg, im April 1998, alle meine Sicherheitsvollmachten an meinen dafür zuständigen Stellvertreter übertragen habe. Er war schon vor meiner Zeit für diesen Bereich zuständig und hatte alle Kontakte zu den örtlichen Organen. Aber selbst die nun von der Anklage vorgelegte Fassung der Vorschrift 37 bestätigt, daß mein Verhalten während des Krieges auch in Unkenntnis dieses Papiers rechtmäßig war. Denn da ist, sogar in Fettschrift, die Klausel vermerkt, daß der RTS-Direktor befugt ist, ein dem Auslagerungsgebot widersprechendes Vorgehen anzuordnen. Das heißt, ich hatte das Recht, nach eigenem Ermessen die Vorschrift 37 außer Kraft zu setzen. Ich hätte mich nur einer staatlichen Aufforderung zur Verlegung des Senders beugen müssen, aber einen solchen Befehl oder auch nur eine Empfehlung habe ich niemals bekommen.
In der Unglücksnacht gab es eher Grund, beruhigt zu sein, da tagsüber der russische Friedensvermittler Viktor Tschernomyrdin in Belgrad war. Nun warteten wir auf sein Statement, in dem er bekannt gab, daß Miloseviæ eine internationale Truppe im Kosovo akzeptiere. Das war für mich einer der Gründe, noch bis spät in die Nacht im Sender zu bleiben. Als die Meldung aus Moskau kam, machten der notdiensthabende Redakteur und ich den Beitrag sendefertig. Gegen 1.30 Uhr habe ich mich nach Hause begeben, und ich verfluche das Schicksal, daß ich nicht noch etwas blieb, weil ich dann im Gegensatz zu meiner jetzigen Marter mit getroffen und so von der Schmach verschont geblieben wäre.
Weshalb hielt ich ein Verbleiben des Senders in den RTS-Studios nach allem Abwägen für richtig? Als staatliches Fernsehen hatten wir den Sendeauftrag, die Information der Bevölkerung über die Kriegsfolgen zu intensivieren. Das wäre aus dem Provisorium eines Bergtunnels nicht möglich gewesen. Der von manchen gewünschten Reduktion der Nachrichtensendungen, Interviews und Reportagen konnte ich nicht zustimmen, weil gerade in der Zeit der Verteidigung des Landes nichts so wichtig ist wie sie.
Noch mehr zählte für mich die schlichte Tatsache, daß es für uns im Krieg überhaupt keinen sicheren Arbeitsort gab. Von jedem Standort hätten wir uns verratende TV-Signale gesendet, und auch im Tunnel hätte uns eine »schlaue Bombe« ausfindig machen können. Wenn der Berg über uns zusammengestürzt wäre, hätte es sogar noch mehr Opfer gegeben.
Unterbewußt vielleicht sogar der Hauptgrund für unser pflichtschuldiges Verharren am Arbeitsort war - ich gebe das ungern zu -, daß wir in der Tiefe unserer Herzen an ein Minimum militärischer Ehre des Gegners geglaubt haben. Am Eingang des dritten Jahrtausends konnte ich mir letztlich nicht vorstellen, daß in unserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde. Und daß die Repressionen nicht ruhen würden, bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selbst zu tragen.
Das Urteil
Das Urteil gegen Dragoljub Milanovic hält fest, er habe leichtfertig angenommen, daß der Tod von Personen nicht eintreten werde. Er wurde für schuldig befunden, die Vorsorgemaßnahmen der jugoslawischen Bundesregierung, die örtliche Auslagerung industrieller und anderer Produktionskapazitäten betreffend, insbesondere die Vorschrift 37, mißachtet zu haben. Nach § 194, Abs. 2 in Verbindung mit §187, Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuches der Republik Serbien wurde er zu einer Haftstrafe von neun Jahren und sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt. Ein zweiter Anklagepunkt, der öffentlich verhandelt wurde, warf ihm das Wirtschaftsvergehen »unerlaubter Devisenbesitz« vor. In einem Panzerschrank waren für den Kauf neuer Technik staatlich zugeteilte Devisen gefunden worden, die dort nicht hätten liegen dürfen. Das ergab zusätzlich acht Monate Haft.
Das Oberste Gericht Serbiens bestätigte die Gesamtstrafe von zehn Jahren und zwei Monaten. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beschuldigte. Er sitzt seit mehr als acht Jahren in Haft.
Diese Art Rechtsprechung, würde sie sich international durchsetzen, stellt letztlich im Falle eines als »friedenerzwingende Maßnahme« ausgewiesenen Angriffskrieges alles unter Strafe, was nicht einer bedingungslosen Kapitulation gleichkommt. Der Kosovo-Krieg ist bis heute weder zeitgeschichtlich, noch juristisch, noch rechtsphilosophisch aufgearbeitet. Aber manche Einzelheiten sind bekannt geworden. Knapp ein Jahr nach dem Krieg sagte der damalige britische Premierminister Tony Blair in einem Interview, der Angriff auf RTS sei notwendig gewesen, weil auch westliche Sender die Videos von zivilen Opfern übernommen hätten. »Das ist eines der Probleme, wenn man in einer modernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft Krieg führt. Uns war klar, daß diese Bilder auftauchen und eine instinktive Sympathie für die Opfer bewirken würden.« RTS wurde bombardiert, weil die Weltöffentlichkeit nicht erfahren sollte, was damals in Jugoslawien wirklich geschah.
In ihrem neuen Buch »Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen« (Rowohlt Verlag, 302 Seiten, 18.90 €) befaßt sich Daniela Dahn in dem Kapitel »Mein erster Angriffskrieg« ausführlich mit dem Krieg vor zehn Jahren, mit den Lügen und den Folgen. Ossietzky wird noch näher über das Buch berichten.In der Nacht des 23. April 1999 um 2:04 Uhr
Rolf Becker
Zur genannten Zeit zerstörten Bomben der NATO den Belgrader Rundfunk- und Fernsehsender RTS (Radio-Televizija Srbije) – punktgenau abgeworfen wie auf Brücken (Varvarin), Wasser- und Elektrizitätswerke, Automobil- und Chemiefabriken (Kragujevac, Novi Sad, Pancevo), Krankenhäuser, Schulen und Hochschulen, Wohnviertel, sogar auf den belebten Marktplatz von Nis – die Liste ließe sich fortsetzen. Sie zerfetzten 16 der zu dieser späten Stunde noch Beschäftigten und verletzten, zum Teil schwer, eine mindestens gleiche Anzahl. Zur Rechenschaft gezogen für diesen »speziellen Krieg – der nicht ›Krieg‹ heißen durfte, obwohl die Sieger sich ›Sieger‹ nannten«, wurden weder Täter noch Staaten der vereinigten Aggressoren, sondern einzig und allein der damalige Direktor des Senders. »Die Geschichte des Dragoljub Milanovic« – Peter Handke hat sie in den ersten Monaten dieses Jahres aufgeschrieben, vor wenigen Wochen wurde sie veröffentlicht.
Nur 32 kleinformatige, dabei großzügig gesetzte Druckseiten. Aber was für eine Geschichte. Vor wenigen Wochen erreichte mich der Anruf serbischer Freunde, Peter Handke zu fragen, ob er bereit sei und Zeit habe, die von mehr als 700 allein in Deutschland unterzeichnete Petition zur Freilassung von Dragoljub Milanovic der Regierung in Belgrad zu übergeben – anders sei die Aufmerksamkeit der Medien dafür kaum zu gewinnen. Seine Antwort liegt jetzt vor, schwarz auf weiß, statt des vermutlich vergeblichen Bittganges zu den neuen, den Siegermächten hörigen Herren; veröffentlicht zunächst in deutscher, vielleicht auch bald in serbischer Sprache, wünschenswert in allen NATO-Sprachen. Anmerkung Handkes zur Petition: »... die aber keiner der ›führenden westlichen Intellektuellen‹ unterschrieben hat – außer Harold Pinter (aus dem Jenseits).«
Nein – kein politisches Pamphlet, keine Kampfschrift, kein moralischer Appell, auch wenn diese Geschichte Peter Handkes seitens einiger auf vermeintlich politische Korrektheit bedachter Wächter in den Feuilleton-Redaktionen als Rückfall des Autors in seine Rolle als »echtester Erbwalter alter jugoslawischer Kultur und Tradition« (Welt online) gewertet wird. Auffallend aber zugleich, daß die Summe der Tatsachen, die in den zehn seit dem Überfall vergangenen Jahren ans Licht gekommen sind, sogar Blätter wie die FAZ zu ein wenig differenzierterer Stellungnahme veranlaßt: »Man mag zu Peter Handke stehen, wie man will, speziell aufgrund seiner umstrittenen Haltung zu Serbien: Er ist nun einmal das ›Nein‹, das hinschaut, das sich mit einfachen Wahrheiten nicht zufriedengibt. Das zeichnet ihn aus.« Und über Dragoljub Milanovic sogar: »Er wurde verurteilt und ins Gefängnis gesteckt für eine Tat, die andere begangen haben: nämlich wir. Seit neun Jahren ist er Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes, wegen der nächtlichen Bombardierung seiner Fernsehanstalt durch die NATO.« Das Eingeständnis wird allerdings wenige Zeilen später relativiert durch Gemeinplätze wie: »Der bedrängte Staat funkt Durchhalteparolen, der andere will Aufgabe: Konflikt programmiert« mit der entsprechenden Folgerung: »Wenn man sich just an der Stelle aufhält, an der das Skalpell angesetzt wird, dann fließt Blut.« 16 Tote, 16 Verletzte, drei davon schwer – so einfach ist das aus der Sicht mancher Redaktionsstuben.
Bei allem, was Peter Handke infrage stellt, wird ihm die Version der Siegermächte und der von ihnen geschaffenen Einrichtungen wie dem Haager Tribunal entgegengehalten. So stellt sich für das österreichische Fernsehen »die Frage, ob das serbische Fernsehen tatsächlich nur Kriegspropaganda betrieben hat oder, wie Handke meint – und er bezieht sich auf seine subjektive Wahrnehmung der gesendeten Bilder 1999 – eben nicht. Denn daß den Bildern von den angerichteten Schäden und den Opfern des NATO-Einsatzes Bilder mit blühenden Landschaften eines unzerstörten Landes entgegengestellt wurden, das will der Erzähler nicht als Propaganda sehen« (ORF). Fazit: Bestätigung der NATO-Version – der Sender mußte ausgeschaltet werden, punktgenau. Handkes Zweifel, Einwände und Belege werden wie bei seinem in diesem Sommer bei den Salzburger Festspielen uraufgeführtem Stück »Immer noch Sturm« vomORF »seiner träumerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Kärntner-slowenischen Familiengeschichte« zugeordnet. Anders die Neue Zürcher Zeitung: »Es stimmt schon: Die Sieger dieses Krieges maßen sich mit andern Ellen als die Verlierer, und in Bezug auf die Bombardierung hängt über dem Haager Kriegsverbrechertribunal der Verdacht der Siegerjustiz.«Nachsatz allerdings, um die NATO-Mächte, darunter schließlich auch die benachbarte BRD, nicht als Aggressor zu bestätigen: »Aber exkulpiert dies automatisch die Verlierer? ... Handkes Wut ist dort produktiv, wo sie westliche Heuchelei demaskiert. Doch sie vernebelt ihm den Blick, wenn es um die serbischen Zustände jener Jahre geht.«
Wie umgehen mit einem Autor, der sich von seinem Bemühen um geschichtliche Wahrheit nicht abbringen läßt und sich samt seinen Lesern dem Mainstream verweigert? Die Autorin der bereits zitierten Online-Ausgabe des Springer-Verlages scheint zu glauben, Peter Handke (ausgerechnet ihn!) auch ästhetisch abwerten zu können: »Halb Literatur, halb literarisch entgleisende Realfiktion. Und stellenweise auch Kitsch, wenn er Milanovic beschreibt: ›Die Hände des seit fast zehn Jahren Eingesperrten lagen während des ganzen Gesprächs bewegungslos auf dem Besucherzellentisch, eine still über der anderen, bis am Ende der Stunden für einen Augenblick sich noch eine dritte Hand darüberlegte.‹«Als wäre der Eindruck, den Handke beschreibt, falsch, wenn Milanovic im Laufe des mehrstündigen Gespräches tatsächlich mal seine Hände bewegt hätte; falsch wie all das, was er zur Zerschlagung Jugoslawiens und zum Bombenterror gegen die serbische Bevölkerung geäußert hat: »Handke taugt nicht zum politischen Agitator, zu sehr läßt er Wut, Trauer, Trotz und Sarkasmus ineinander fließen. Wie bei jedem, der aus der Emotion heraus Politik betreibt, entstehen Fehler, Ungenauigkeiten. Handke interessiert sich nicht für das präzise Geschehen. Er fügt an: ›wenn ich mich recht erinnere‹ und: ›oder so ähnlich‹. Die literarische Form ermöglicht die Rettung ins Ungefähre.« Bild lesen statt Handke, denn: »Als literarisches Werk bietet das Buch, bis auf ein paar Seiten, wenig Genuß.«
Ein vergleichbar erhellender Rundumschlag findet sich im BerlinerTagesspiegel: »Liebe Literaturpreisjurys, vergeßt Peter Handke! Es bringt euch nur Ärger und Peinlichkeiten, wenn ihr versucht, den österreichischen Autor auszuzeichnen. Eigentlich ist das ja seit dem Eklat um den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf vor fünf Jahren klar. Damals sperrten sich die Stadtoberen gegen die Entscheidung der unabhängigen Jury. Jetzt gibt es eine verkleinerte Neuauflage dieser Posse. Es ist ein Skandälchen mit Ansage: Peter Handke bekommt den Candide-Preis, aber nicht das Preisgeld von 15 000 Euro. Denn dem Sponsor – ein Buchbindemaschinenhersteller – paßt die Wahl der fünfköpfigen Jury nicht. Er weigert sich, die Summe zur Verfügung zu stellen … Grund für den Konflikt ist wie schon 2006 Handkes Engagement für Serbien. Sein Werk hat der 1942 in Kärnten geborene Schriftsteller dadurch tief beschädigt.«
»Es ist hier eine Geschichte zu erzählen« – so beginnt Peter Handke, und er löst ein, was er wie einen Auftrag ankündigt, nicht mehr und nicht weniger. Was den Zorn der Herren des Mainstreams auslöst, ist der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte, ist das Fragen und Hinterfragen, auch Provozieren ihres Autors, der seine Wahrnehmungen und Erfahrungen gegen das von Politik und Medien verbreitete Bild verteidigt, gegen »die von vornherein festgestandenhabenden Sieger, beziehungsweise Gewinner ... Eine Geschichte demnach, erzählt allein den toten Fischen in der toten Donau, den leeren Maiskolben auf den leeren Feldern der Vojvodina, einem vertrockneten Blumenstrauß in einer verrosteten Konservendose auf dem Friedhof von, sagen wir, Porodin, und zuletzt dem Schädel, oder was von ihm übrig ist, im Grab von Ivo Andric.«
Resignation? Keineswegs, sonst würde Peter Handke die Geschichte nicht publizieren. Bitter gelegentlich, zynisch sogar angesichts der Kräfteverhältnisse, die es trotzdem zu verändern gilt. Provokation zum Nachdenken, Überprüfen und entsprechenden Eingreifen, zu dem er, der Einzelne, schreibend seinen Beitrag leistet: »...was für eine Art von Krieg. Devise: Ein Hirngespinst, wenn es amtlich wird und Arm der Macht, findet immer einen Gesetzesparagraphen, welcher es auf die Sprünge bringt – es realisiert; mit anderen Worten: in den Schein eines Rechts setzt.«
Über diesen Krieg »gegen den Staat, welcher damals noch ›Bundesrepublik Jugoslawien‹ hieß« hat er in zahlreichen Romanen, Theaterstücken, Berichten geschrieben. Hier beschränkt er sich – scheinbar – auf das Beispiel eines Senders: »Dem Tony und dem Bill genügte es, daß das serbische Fernsehen dokumentarische Bilder, unterlegt mit einem Berichtston, von den ›Luftschlägen‹ sendete, samt all den zivilen Kollateralopfern – es gab fast nur solche, zu guter Letzt an die 2.000 (zweitausend) –, und das völkerrechtlich geschützte Zivilobjekt RTS gab ein berechtigtes ›Ziel‹ ab; es brauchte nicht einmal der übliche Kollateralirrtum fingiert zu werden.« Den im Mainstream dahintreibenden Medien stellt er nicht mehr – und nicht weniger! – als seine eigene Wahrnehmung entgegen: Ich bezeuge, daß nicht ein einziges der damals gezeigten Bilder und/oder Tonbilder, auf eine beinah unfaßbare Weise bei allen den zentralen Zerstörungen und tangentialen Menschenzerfetzungen, etwas wie Tendenz oder Propaganda, geschweige denn Haß oder Rachsucht ausstrahlte.«
Handke wird zum Zeugen für Dragoljub Milanovic, »Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes«, der »nicht imstande gewesen war, sich ›vorzustellen, daß in unserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde ... am Eingang des dritten Jahrtausends‹,« und noch weniger, »daß danach die Repression solange weitergehen würde, ›bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selber zu tragen‹.« Wie der ehemalige Bürgermeister von Varvarin, der vor Gericht gestellt werden soll, »weil er an dem bewußten Himmelfahrtstag, als zwei Bomben auf die kleine Brücke über die Morava – dort im Süden noch ein Flüßchen – abgefeuert worden sind, das Sperren der Brücke verabsäumt hatte; denn er hätte wissen müssen, daß von März bis Juni 1999 ausnahmslos jede, selbst die unbedeutendste öffentliche Einrichtung als Kriegsziel in Frage kam; daß durch die Bomben auf die Brücke von Varvarin die eigene Tochter des Bürgermeisters, des predsednik opštine, getötet worden ist, tut der Strafbarkeit keinen Abbruch.«
Mit Georg Büchner’schen Purzelbäumen hebt Handke gegen Ende seiner Geschichte Widersprüche, die unlösbar scheinen, auf. Wie jener die fürstlichen Popanze der Reiche von Pippi und Popo läßt er die Tonys und Bills der Imperien unserer Tage schlichtweg ungeschehen machen, was sie gestern angerichtet haben.
Handke lesen. Und sei es nur diese kleine Geschichte, in einer künftigen Gesellschaft der Weltliteratur zuzuordnen: »So höre, Schuhband, zerschlissenes. Hör zu, verrosteter Nußknacker. Hör zu, krumme Nähnadel. Höre, verstaubtes Stofftier. Höre, mein abgewetzter Fußabstreifer. Höre zu, Spiegelbild.«
Peter Handke: »Die Geschichte des Dragoljub Milanovic«, Jung und Jung Verlag, 37 Seiten, 9 €
http://www.sopos.org/aufsaetze/4ed385bfb2b2b/1.phtml
Peter Handke: Die Geschichte des Dragoljub Milanović
Höre, Schuhband, zerschlissenes!
– Die Verteidigungsrede des Peter Handke für Dragoljub Milanović. Von Carl Wilhelm Macke.Er hat alles Recht der Welt und als freier Schriftsteller sowieso, ein rechtskräftiges Urteil anzugreifen. Und gegen ein Urteil, das sich tatsächlich auf ein sehr dünnes Beweismaterial stützt, sollte ein Schriftsteller mit allem ihm zur Verfügung stehenden Wortreichtum Stellung beziehen. Das macht denn auch Peter Handke in seiner schmalen Verteidigungsschrift für den in Belgrad inhaftierten Fernsehjournalisten Dragoljub Milanović. So weit, so gut. Und gut geschrieben ist dieses schmale Plädoyer für die Freiheit eines Gefangenen ganz gewiss, der angeblich den Tod von sechzehn Angestellten seines Senders bei einem NATO-Luftangriff im Jahre 1999 zu verantworten hat. Es gibt, wie immer bei Peter Handke, wunderbare Wortgirlanden mit aberwitzigen Satzkonstruktionen, berauschenden Metaphern mit hohen – manchmal aber auch hohl klingenden – Tönen. Auf jeder Seite findet man Formulierungen, die, jedenfalls Handke-Fans, nur so aufsaugen und am liebsten auswendig lernen möchten. Zum Beispiel die allerletzten Satzfetzen des Büchleins: „So höre, Schuhband, zerschlissenes. Hör zu, verrosteter Nußknacker. Hör zu, krumme Nähnadel. Höre, verstaubtes Stofftier. Höre, mein abgewetzter Fußabstreifer. Höre zu, Spiegelbild.“
Aber wenn Handke über Serbien, über „sein Serbien“ schreibt, geht ihm auch immer der Gaul durch. Da lässt er nicht mit sich reden. Jede Infragestellung seiner Sympathien für Serbien, nein, nicht für Serbien, für den extrem nationalistischen Teil der öffentlichen Meinung in Serbien, wehrt er bissig und besserwisserisch ab. So wird ihn auch die Kritik an dieser fragwürdigen Verteidigungsschrift eines fragwürdigen serbischen Journalisten nicht erreichen. Für ihn sind das alles ferngesteuerte Meinungen von intellektuellen Wachhunden des Westens, von ignoranten Eintagestouristen in den Schluchten des Balkans. Serbien ist für ihn ein sauberes, unschuldiges Land mit Menschen, die sich noch zu wehren wissen. Aufrecht Gehende hier, vor der Mehrheitsmeinung Buckelnde dort. Dazwischen ödes Niemandsland mit Supermärkten und Spielhöllen.
Hätte Handke bloß
Hätte Peter Handke doch vor der Abfassung seiner so wortgewaltigen Verteidigung von Dragoljub Milanović doch wenigstens einen Journalisten gesprochen, der ein ganz anderes Bild des jetzt leidenden ehemaligen Fernsehdirektors gezeichnet hätte. Hätte Handke sich doch wenigstens die Zeit genommen für eine Recherche auch im gegnerischen Umfeld des Porträtierten. Hätte Handke (oder der Verlag) wenigstens in einer Fußnote mehr biografisches Material zu der doch sehr zweifelhaften Berufskarriere des Dragoljub Milanović zusammengestellt.
Vorausgesetzt, das alles hätte Handke getan, dann wäre diese Verteidigungsschrift für einen Journalisten, der aufgrund eines offensichtlich sehr fragwürdigen Urteils für Jahre in Haft sitzt, tatsächlich etwas glaubwürdiger und überzeugender. So aber erfährt der Leser von Handke nichts Neues. Ein Wortfeuerwerk in dunkler Nacht – nichts weiter. Dass ein so sensibler, so sprachmächtiger, so fantasiereicher Schriftsteller in seinen politischen Stellungnahmen, vor allem Serbien betreffend, so einseitig, so verblendet, so obsessiv von „seiner“ Wahrheit überzeugt sein kann, nimmt man immer wieder staunend zu Kenntnis.
Danilo Kiš, einer der ganz großen Schriftsteller nicht nur Serbiens, sondern Europas im vergangenen Jahrhundert, hat einmal gefordert: „Wenn du nicht die Wahrheit sagen kannst – schweige.“ Warum handelt Handke, der doch ansonsten Kiš schätzt, nicht auch einmal nach dieser klugen Einsicht? Aber ihn wird diese Mahnung nicht erreichen.
Carl Wilhelm Macke
Peter Handke: Die Geschichte des Dragoljub Milanović. Salzburg und Wien: Verlag Jung und Jung 2011. 40 Seiten. 9,00 Euro.
http://culturmag.de/rubriken/buecher/peter-handke-die-geschichte-des-dragoljub-milanovic/39703Von Hans-Dieter Schütt 26.09.2011 / Feuilleton
Die dritte Hand
Peter Handke: Die Geschichte des Dragoljub Milanovic
Öffentlichkeit trifft bisweilen seltsame, aber aufschlussreiche Absprachen mit sich selbst. Nahezu parallel zu den derzeitigen Ablehnungs-Tumbheiten gegen Peter Handke, dem der Mindener Literaturpreis »Candide« verweigert werden soll (ND vom 22. September), erscheint ein schmales Buch des Österreichers, ein Büchlein nur; darin erzählt er die Geschichte eines Serben.
In seinem Büchlein nun erzählt Handke »Die Geschichte des Dragoljub Milanovic«. Am 23. April 1999 bombardierte die NATO das Gebäude des serbischen Radio- und Fernsehsenders RTS in Belgrad. Sechzehn Menschen starben. Der Direktor des Senders, jener Milanovic (Foto: Wikipedia), ist seit fast zehn Jahren im Gefängnis. Von einem Gericht seines eigenen, nun neubürgerlichen Landes verurteilt. Er habe Sicherheitsvorkehrungen verletzt. Er habe gröb-lichst ignoriert, dass RTS auf jeden Fall Bombenziel sein konnte – weil dessen Sendungen zu Hass und ethnischer Säuberung anstifteten. Wie das eben damals so serbische Art gewesen sei, jedenfalls nach Ansicht der politischen »Fernbomber« Blair und Clinton – Handke nennt sie Tony und Bill; es gibt einen Intimitätston, der wirft den so Geduzten ins höllischste Nichts. Hasspropaganda auf RTS? Lüge, wie Handke betont, auch Daniela Dahns Buch »Wehe dem Sieger!« wird als Zeuge aufgerufen.
Das ist die Parallelität: Just des Dichters Nähe zu Serbien, seine literarischen »Gegenbilder zu den vielfach vorgestanzten Gucklöchern auf das Land« – wie er es selbst sagt – sind der Grund für das soeben heftig ausgebrochene Angst-Ekzem im Gemüt des Mindener Preisgeldgebers. Gespenstisch!, dieser Handke war vor fünf Jahren beim Begräbnis von Slobodan Milosevic! Kein Geringerer als der Büchner-Preisträger Martin Mosebach hatte damals gesagt: »Ein Mann, der dem toten Milosevic die Treue hält, sollte uns jedenfalls lieber sein als die vielen Politiker des Westens, die dem lebenden Milosevic seine Verbrechen möglich gemacht haben.«
»Hauptgrund für unser pflichtschuldiges Ausharren am Arbeitsort war, dass wir in der Tiefe unseres Herzens an ein Minimum militärischer Ehre des Gegners geglaubt haben.« So Milanovic selber; am Verhängnistag ging er tiefnachts heim, nach Fertigstellung eines Beitrages über Friedensgespräche und Milosevic' Ja zu einer Friedenstruppe in Kosovo. »Ich verfluche das Schicksal, dass ich nicht blieb, weil ich dann mitgetroffen worden wäre ...«
Handke rollt einen Fall auf, er tut es mit Trauer. Weil sein Erzählen ein Erzählen ohne Zuhörer zu sein scheint, wer liest heute Geschichten, die ein Feind-Bild schauend wegerzählen, statt es blind herbeizutrommeln? Das fragt Handke sich, uns, alle. Er weiß um die Arroganz der westlichen Welt, wo alles Serbische immer schon verurteilt wurde – noch ehe alle politischen Verstrickungen, Unterlassungen, Ränke, Hinterlistigkeiten zur Sprache kamen, die vorm und im NATO-Krieg gegen Jugoslawien aufs eigene, westliche Kerbholz geschnitten waren. Straßburg und Den Haag übrigens wiesen den Fall Milanovic und einen Prozess gegen die Bombardierenden statt gegen ihn weit von sich – der NATO-Krieg sei schließlich kein Kriegverbrechen gewesen. Auch deshalb Trauer. Im Klagen Kraft.
Handke erzählt auch mit stolzem Trotz. Weil dennoch erzählt werden muss, »immer und immer wieder«, und sei es einem »Holzstoß oder einem leeren Schneckenhaus« oder »den toten Fischen in der toten Donau«. Es wirken die Sprach-Bilder manchmal, als trete ein altgriechischer Dramenbote aufgeregt berichtend vor Menschen, die noch zu einem Erschrecken fähig sind. Es gibt in diesem zornigen Beben zugleich eine Arglosigkeit, die den Dichter mitten in seiner Ohnmacht, in seinem Flehen doch als einen sehr freien Menschen erscheinen lässt. Eine Freiheit, die sich nicht freispricht – von dringlicher Einrede: So wird der Dichter inständiger Sprecher neuen Rechts – das von den Fragezeichen kommt, wenn diese nur aus jenem Elend erlöst wären, das schon Handkes Stück »Spiel vom Fragen« einst bitter besang: »In uns die Fragezeichen sind heutzutage krank. Können keine richtigen Fragen mehr bilden. Sind deshalb in unseren Köpfen ausgebrochen als die Pein des Geredes. Welches jede Frage erstickt. Welches die Herzen auffrisst. Welches mit uns aufräumen wird, wenn wir, statt von der Wunde abzulenken, ihr nicht auf den Grund zu gehen versuchen.«
Moment: Wurde eben von »Bericht« gesprochen? Kein Bericht. Und wenn, dann Rettung des Berichts hinüber in die Poesie. Um Fakten kommt Handke nicht herum, aber er geht um sie herum, wie man an Leben vorbeizuschrammen Lust hat, das sich reduzieren lässt auf Paragrafen, Ordnungssätze, Schlagzeilen. Kloakenwort Information.
Der Dichter erschreibt uns sinnend das Gelände, auf dem die Sende-Ruine von der Präzision kündet, mit der sie – und nur sie, inmitten anderer Gebäude! – messerschnittpräzis, also keinesfalls zufällig – von NATO-Waffen in die Welt gefetzt wurde. Schuldig der, der so was leider nicht für möglich hielt? Nicht jedoch die, deren Verbrechen da niederfuhr?
Handke schildert den Park, in dessen Bäumen noch Tonbänder, von ihren Spulen gerissen, wie Papierschlangen wehen; ein so wunderbares, groteskes, wehes Bild; Mörikes blaue Bänder hier dunkel, und statt Frühling eine frierend machende Szene.
Der Dichter, wütend leidend, besuchte Milanovic im Gefängnis. Kurze Fragen, kluge, aber auch am Abgrund kalter Resignation stehende Antworten. Am Ende des Besuchs schreibt Handke, was kein Reporter schriebe. Weil ein als ehrenwert geltender Reporter so, wie der Freilandgänger eines Gefängnisses elektronische Fußfesseln trägt, Herzfesseln hat, die ihn an die »Objektivität« der Berichterstattung binden. Handke also: »Die Hände des seit fast zehn Jahren Eingesperrten lagen während des ganzen Gesprächs bewegungslos auf dem Besucherzellentisch, eine still über der anderen, bis am Ende der Stunden für einen Augenblick sich noch eine dritte Hand darüberlegte.«
Die Geschichte des Dragoljub Milanovic. »Geschichte, die seine ist und, eher noch, das Gegenteil«. Unser aller! Die Erzählung somit als Glaubens-Artikel des Dichters: Denn was erzählt wird, wem auch immer (»Höre, mein abgewetzter Schuhabstreifer. Höre zu, Spiegelbild.«), hat die Welt doch schon verändert. Erzählen versetzt Augen in die Möglichkeit, auf das bislang stets nur immer so, und nur so!, Gesehene nun etwas anders zu blicken. In einem Etwas das ganz andere zu sehen. Die Geschichte des Dragoljub Milanovic als das, bitte, nicht zu Vergessende – gegen Geschichte, dies andere Wort für Unrecht, die du deshalb vergessen kannst.
Peter Handke: Die Geschichte des Dragoljub Milanovic. Jung und Jung Verlag Salzburg. 40 S., 9 €.
Peter Handke: Die Geschichte des Dragoljub Milanovic. Jung und Jung Verlag Salzburg. 40 S., 9 €.
“Flußwassermusik für Ewiggestrige”? |
Nedjelja, 16 Listopad 2011 12:42 |
Die Geschichte des Dragoljub Milanović: dann wird es wieder Handke - voll und ganz. Rezension von Clemens Ruthner
„Hier handelt es sich um keine Predigt, sondern (...) um eine Geschichte. Aber auch die wäre notfalls einem Holzstoß oder einem leeren Schneckenhaus zu erzählen, oder gar, wie im übrigen nicht zum ersten Male, mir hier ganz allein.".
Peter Handkes Ich-Erzähler, der als selbst ernannter Chronist auf knapp 32 Seiten Die Geschichte des Dragoljub Milanović ausbreitet, leidet unter einer eigentümlichen Mischung aus Sendungsbewusstsein und Pessimismus, die ihn zu unerträglich schönen Sätzen wie den zitierten führt. Und wenn ihm kein Mensch zuhört, dann spricht er eben zu seinem „Schuhband", zum „Nussknacker", oder gar zum „abgewetzten Fußabstreifer". . Talk to the hand, würden ihm hier vielleicht böse amerikanisierte Zungen ironisch zurufen, doch in der Handke-Welt sind Amerikaner (z.B. „William ‚Bill' Clinton", wie es abschätzig heißt) ohnehin schlecht angeschrieben. Die tragischen good guys im neuen Buch sind wieder, wie schon seit den notorischen YU-Kriegstagebüchern des Autors: die Serben als Inbegriff aller „Balkan-Apachen" (Richard Schubert), hier einmal mehr einmal Fleisch geworden in einer Märtyrerfigur, die des ehemaligen serbischen Fernsehdirektors Dragoljub Milanović. . Milanović wurde 2002 von einem serbischen Gericht zu zehnjähriger Haft verurteilt, weil er seine Leute im April 1999 während der NATO-Luftangriffe auf Belgrad nicht evakuierte, sondern sie weiterarbeiten ließ. Eine „intelligente Bombe" - Teil jener internationalen Militärintervention, um die Gewaltakte serbischer Soldaten und Freischärler im Kosovo zu beenden - tötete daraufhin sechzehn RTS-Mitarbeiter, indem sie das TV-Gebäude zerstörte, die Umgebung aber intakt ließ: „Der Luftdruck, oder was, beim Einschlag der chirurgischen Bombe, oder so, hat sie weg von den Montagetischen unten in den Senderkellern, oder wo, durch die geborstenen Scheiben hinauf und hinaus in den vor Wochen wohl fast noch kahlen Baum geschleudert, und jetzt lässt der Frühling, zwischen den grünen Birkenblättern, die andersgrünen Bänder durch die Luft wehen."
Auch dieser Text wirkt also auf den ersten Blick sehr handkisch - aber nicht ganz, könnte doch den Autor hier langsam ein Unbehagen beschleichen ob seines feurigen Engagements für das mehr oder weniger totalitäre Restjugoslawien des Slobodan Milosević, das die Genozide in Ex-Jugoslawien nationalistisch initialzündete, die Medienfreiheit behinderte und nachher mutmaßliche Kriegsverbrecher wie den bosnischen General Mladić jahrelang versteckte. Kommt jetzt die innere Umkehr, indem der Autor die Geschichte eines Serben erzählt, der von Serben eingesperrt wurde? Diese Hoffnung verflüchtigt sich bald, macht doch Handke letztlich wieder die internationale Gemeinschaft für die Bestrafung von Milanović verantwortlich: nicht diesen selbst (als Gefolgsmann von Milosević) und auch nicht die serbische Politik, die vielleicht post Milosević einen Sündenbock suchte und ihn im Fernsehdirektor fand - der seither in Zabela bei Požarevac sitzt, dem örtlichen Äquivalent zu Stein an der Donau.
Die Begeisterung für die Spurensicherung am Wegrand, dort wo sich Unkraut und Papierln ein melancholisches Stelldichein geben, ist typisch für den Stifter-Freak Handke. Auf gesellschaftliche Zustände oder gar Politik zu achten, ist hingegen sein Ding nicht. So durchzieht denn auch eine Reihe von Borniert- und Ungereimtheiten den Text. Unklar bleibt beispielsweise, ob Milanović zu neun oder zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Ebenso leugnet der Ich-Erzähler beharrlich, dass die „Bilderfolgen", die Milanović im Fernsehen gezeigt hatte - „vorwiegend die Natur" und „den ewigen balkanesischen Reigentanz" - Propaganda für das Regime gewesen wären. Kein Grund, um einen TV-Sender zu bombardieren, beharrt Handke und freut sich, dass von dem Häftling „etwas Kindliches" ausgeht.
. Offenkundig ist auch das Internet kein handketaugliches Medium, denn sonst hätte der Feingeist aus Kärnten in Erfahrung bringen können, dass es Indikationen dafür gibt, dass Milanović aus nationalistischen Motiven heraus seinen Mitarbeitern verbot, nach Hause zu gehen. Und dass gegen ihn ein zweites Verfahren wegen Korruption läuft: für die widerrechtliche Vergabe von Betriebswohnungen soll er fast eine halbe Million Euro kassiert haben. Eine weitere Intrige der Politjustiz? Für den Autor indes wird die Unschuldsvermutung zur dogmatischen Gewissheit. . Doch wie häufig in der Literatur, gibt es auch hier Stellen, wo sich Handkes Geschichte selbst entblößt. So heißt es seltsam hellsichtig gegen Ende des Textes: „Den Eingekerkerten gibt es doch gar nicht. (...) Was ihm widerfahren ist: Er ist erfunden. (...) Das Ganze hier ist nichts als eine Flußwassermusik für Ewiggestrige, Jugonostalgiker, Randgruppen, Randfiguren." Ein Anfall von Selbstironie? Nicht wirklich, denn Humor hat in dieser angestrengten Art zu schreiben selten etwas verloren. . Wer nimmt Handke künftig die Last dieses Erzählens ab? Der real-existierende Dragoljub Milanović bleibt weiterhin in Zabela und seine Geschichte ungeklärt.
Peter Handke, Die Geschichte des Dragoljub Milanović,
37 S / € 9,- Jung & Jung, Salzburg & Wien, 2011. * |
Geschichte des Dragoljub Milanovic"
peter-handke-zurueck-in-serbien
Peter Handke zurück in Serbien
Und schon wieder schreibt Peter Handke über Serbien! Dabei ist der Ausruf nicht der Wiederholung geschuldet, sondern Ausdruck einer Sorge, der österreichische Dichter könnte abermals Partei für Serbiens Kriegsverbrecher ergreifen. Doch seine "Geschichte des Dragoljub Milanovic" (Jung und Jung, 40 Seiten, neun Euro) ist der Rettungsversuch für einen Einzelnen: für den früheren Direktor des staatlichen Radiosenders RTS, der, nachdem die Nato das Gebäude am 23. April 1999 bombardiert hatte, noch von der serbischen Regierung für den Tod von 16 Angestellten verantwortlich gemacht wurde. Milanovic habe das Haus nicht evakuieren lassen, so die Anklage.
Seither sitzt er in Haft. Handke besucht ihn dort zweimal, spricht mit ihm, will wissen, was geschah. Dabei begegnet der Dichter einem Melancholiker und Lyriker, und man hat den Eindruck, als begegne der am serbischen Schicksal Leidende im Gefängnis seinem Spiegelbild. Aber Handke sieht auch, dass der Sender ein Symbol des Staates war, Propaganda lieferte. Auch RTS stellte das serbische Volk "als ein ganz besonderes, einmaliges, unvergleichliches, nach all den Bombennächten den Tag feierndes" dar. Ist das nun eine Verteidigungsschrift für Milanovic, ein Klageruf, eine Momentaufnahme aus Serbiens Nachkriegsgegenwart? Vor allem ist es ein weiteres Mosaik zu Handkes großem und vielleicht einzigem Lebensthema. Diesmal dient er Serbien mit seinen Worten: Unglaublich die Beschreibung der Birke gleich neben dem bombardierten Rundfunkhaus, mit all den Tonbändern, die "als spezielle Girlanden in einem fort hin und her schwingen".
Handkes politische Serben-Klage entgleist in Kitsch
Früher verteidigte Peter Handke Milosevic mit Inbrunst. In seinem neuen Essay verklärt er einen serbischen Fernsehdirektor, der ins Gefängnis musste.
Seit Mitte der 90er-Jahre ist der Dichter Peter Handke immer wieder durch Texte über Themen hervorgetreten, die mit den Folgen des Zerfalls Jugoslawiens zu tun haben. Meist kamen sie als politisch aufgeladene, in jedem Fall als pro-serbische Parteinahmen daher. Darin klagte Handke an: Die Nato dafür, dass sie Serbien bombardierte, und den Westen dafür, dass er Milosevic´ angeblich nicht verstand. So, als begreife nur er, der Dichter, was in Serbien und anderswo geschah, als sei er der echteste Erbwalter jugoslawischer Kultur und Tradition. Seine Polittexte klangen nach einer eingerasteten Taste, die nicht mehr herausspringen will.
In seinem neuesten Werk „Die Geschichte des Dragoljub Milanovic“ beklagt Handke wieder das Schicksal eines Serben. Der gleichnamige Leiter des serbischen Fernsehens war von einem serbischen Gericht zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Milanovic hatte 1999 den Sender nicht evakuiert, bevor die Nato-Bomber kamen, obwohl er einen Warnhinweis erhalten hatte. Man unterstellte Milanovic, Tote billigend in Kauf genommen zu haben, um die Nato dafür anzuklagen. Es starben 16 seiner Mitarbeiter.
- FOTO: WIKIPEDIAIm April 1999 griff die Nato das Gebäude des Senders RTS in Belgrad an. 16 Mitarbeiter verloren ihr Leben
Auf diese Opfer geht Handke kaum ein. Er schreibt von der Zeit der Nato-Angriffe, als seien die Menschen in Belgrad und anderswo vor ihnen ständig auf der Flucht gewesen. Er selbst habe sich „zweimal für jeweils etwa eine Woche im unablässig bombardierten Land“ befunden. Handke zeichnet die Situation, als hätte sie viel gemein mit Berlin oder Dresden im Zweiten Weltkrieg. Tatsächlich aber blieb Belgrads Innenstadt von Angriffen unberührt, das Leben lief weiter wie gewohnt. Die Nato-Bomben fielen sehr selektiv in Außenbezirken. Bis auf die Bomben, die auf den Fernsehsender in der Stadt niedergingen.
Wer hat die 16 Opfer auf dem Gewissen? Der Bomberpilot oder der Fernsehdirektor? Handke hält Milanovic für unschuldig. Seine politisch induzierte Prosa erklingt jedoch im ständig falschen Ton. Er literarisiert nicht die Realität, er dokumentiert sie auch nicht anhand der Fakten, er bleibt irgendwo dazwischen hängen.
Halb Literatur, halb literarisch entgleisende Realfiktion. Und stellenweise auch Kitsch, wenn er Milanovic beschreibt: „Die Hände des seit fast zehn Jahren Eingesperrten lagen während des ganzen Gesprächs bewegungslos auf dem Besucherzellentisch, eine still über der anderen, bis am Ende der Stunden für einen Augenblick sich noch eine dritte Hand darüberlegte.“
- FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA/EPAIm Jahr 2000 wurde RTS-Chef Dragoljub Milanovic (M.) von serbischen Demonstranten attackiert, weil er trotz Warnung den Sender bewusst nicht geräumt hatte
Handke verklärt sein Gegenüber. „Sein Kindergesicht, große stille Augen, Sanftheit um den Mund, der sich keinmal verzog, schon gar nicht nach unten ...“ Für was soll das sprechen? Sicher kann man diesen Häftling nicht mit den mörderischen, serbischen Soldaten bei Srebrenica vergleichen. Die muslimischen Väter und Söhne fielen aber auch auf die sanften Stimmen der serbischen Soldaten herein, die sie mit Versprechungen aus den Wäldern lockten – und wurden alle erschossen. Ein kindliches Gesicht schützt vor keiner Schuld.
Handke taugt nicht zum politischen Agitator, zu sehr lässt er Wut, Trauer, Trotz und Sarkasmus ineinander fließen. Wie bei jedem, der aus der Emotion heraus Politik betreibt, entstehen Fehler, Ungenauigkeiten. Handke interessiert sich nicht für das präzise Geschehen. Er fügt an: „wenn ich mich recht erinnere“ und: „oder so ähnlich“. Die literarische Form ermöglicht die Rettung ins Ungefähre.
Handkes Text bleibt halbgare Anklageschrift
Als literarisches Werk bietet das Buch, bis auf ein paar Seiten, wenig Genuss. An den seltenen Stellen, an denen Handke Natur und Beobachtung einfach so verschmilzt, gelingen ihm jedoch zart hingetupfte Sätze. Aber lohnen die wenigen Seiten das ganze Buch? Handke verausgabt sich im Politisch-Demonstrativen, sein Text bleibt eine halbgare Anklageschrift. Ob Milanovic zu Recht oder Unrecht verurteilt wurde, lässt sich nach der Lektüre seines Büchleins leider keinen Deut besser beurteilen als zuvor.
Peter Handke: Die Geschichte des Dragoljub Milanovic. Jung und Jung Verlag, Salzburg. 40 S., 9 Euro. Ab 25. August im Buchhandel.
http://www.faz.net/artikel/S30347/peter-handke-die-geschichte-des-dragoljub-milanovic-einer-muss-schliesslich-immer-vor-gericht-30491396.html
http://www.faz.net/artikel/S30347/peter-handke-die-geschichte-des-dragoljub-milanovic-einer-muss-schliesslich-immer-vor-gericht-30491396.html
Die Geschichte des Dragoljub Milanović
Peter Handkes neues Buch
In Peter Handkes in diesem Sommer bei den Salzburger Festspielen uraufgeführtem Stück "Immer noch Sturm", seiner träumerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Kärntner-slowenischen Familiengeschichte und der Geschichte des slowenischen Widerstandes gegen die Nazis, sagt das erzählende Ich: "Jetzt wollte ich endlich den Klartext reden, dem auszuweichen man seit jeher mir vorwirft - wieder nichts".
Der Klartext, die unverblümte Darstellung der Fakten, will diesem Schriftsteller nicht gelingen, nein, er misstraut vielmehr dem Klartext als Aussageform seit jeher. Und so verwandeln sich die Stoffe unter der Hand in Träume, in Visionen, in Erzählungen, oder auch in Polemik. Zu Missverständnissen, zu harter Kritik, zu Medienschelte vonseiten Handkes und journalistischen Gegenattacken führte das jahrelang vor allem immer dann, wenn es um Ex-Jugoslawien ging, vor allem um das Bild Serbiens, wie es medial vermittelt wird.
Und nun ein Buch, das eine ganz und gar wahre Geschichte aus Serbien erzählt. "Es ist hier eine Geschichte zu erzählen", lautet der erste Satz. Die Geschichte nämlich des ehemaligen Direktors des staatlichen serbischen Fernsehens und Radios, Dragoljub Milanović. Seit neun Jahren sitzt Milanović nicht in einem internationalen Gefängnis, nicht in Den Haag, er sitzt in einem serbischen Gefängnis, verurteilt von einem serbischen Gericht.
Und nun ein Buch, das eine ganz und gar wahre Geschichte aus Serbien erzählt. "Es ist hier eine Geschichte zu erzählen", lautet der erste Satz. Die Geschichte nämlich des ehemaligen Direktors des staatlichen serbischen Fernsehens und Radios, Dragoljub Milanović. Seit neun Jahren sitzt Milanović nicht in einem internationalen Gefängnis, nicht in Den Haag, er sitzt in einem serbischen Gefängnis, verurteilt von einem serbischen Gericht.
"Einem Holzstoß" erzählen
Ihm wurde zur Last gelegt, in der Nacht des 23. April 1999, vier Wochen nach Beginn der NATO-Intervention in Ex-Jugoslawien, seine Angestellten nicht gewarnt und geschützt zu haben, sie nicht in Sicherheit gebracht zu haben. Denn in jener Nacht wurde die serbische Fernseh- und Radiostation im Zentrum von Belgrad bombardiert, 16 Menschen starben, es gab viele Verletzte. Milanović selbst hatte den Sender nur wenige Stunden zuvor verlassen und entkam so dem Angriff. Handke hat Milanović im Gefängnis besucht und seine Geschichte aufgeschrieben.
Wem aber soll er sie erzählen, wo doch sowieso keiner zuhören will? Mit einem melancholischen Unterton heißt es: "einem Holzstoß", einem "leeren Schneckenhaus" oder "wie im Übrigen zum ersten Male, mir hier ganz allein". Das mag etwas nach Koketterie klingen, denn die Entscheidung, diese Geschichte zu veröffentlichen, mit dem zu erwartenden Effekt, dass sie im Radio und anderswo weiter- und nacherzählt wird, macht sie zu einer öffentlichen Geschichte. Peter Handke setzt seinen Namen für den Gefangenen ein, und er kritisiert eine Entscheidung, die er nach wie vor für ungerechtfertigt, ja, die er nach wie vor für ein Verbrechen hält: den NATO-Einsatz gegen Serbien, die Bombardierung Belgrads und anderer Städte mit den unvermeidlichen Opfern, die sich hinter dem Wort "Kollateralschäden" verbergen.
Wem aber soll er sie erzählen, wo doch sowieso keiner zuhören will? Mit einem melancholischen Unterton heißt es: "einem Holzstoß", einem "leeren Schneckenhaus" oder "wie im Übrigen zum ersten Male, mir hier ganz allein". Das mag etwas nach Koketterie klingen, denn die Entscheidung, diese Geschichte zu veröffentlichen, mit dem zu erwartenden Effekt, dass sie im Radio und anderswo weiter- und nacherzählt wird, macht sie zu einer öffentlichen Geschichte. Peter Handke setzt seinen Namen für den Gefangenen ein, und er kritisiert eine Entscheidung, die er nach wie vor für ungerechtfertigt, ja, die er nach wie vor für ein Verbrechen hält: den NATO-Einsatz gegen Serbien, die Bombardierung Belgrads und anderer Städte mit den unvermeidlichen Opfern, die sich hinter dem Wort "Kollateralschäden" verbergen.
Um Ausgewogenheit bemüht
Diese Diskussion muss weitergehen, sie wird zum Gegenstand der Historiker werden, und sie wird auch Peter Handke vermutlich auch in Zukunft nicht loslassen. Doch die Polemik, der Skandal, die jahrelang jede Äußerung Handkes zu Jugoslawien begleiteten, sie sind auch von Seiten des Autors einer melancholischeren, ruhigeren, einer durchaus um Sachlichkeit und auch in der subjektiven Anschauung um Ausgewogenheit bemühten Haltung gewichen.
Diese Nachdenklichkeit kennzeichnet die große Erzählung "Die morawische Nacht" aus dem Jahre 2008, sie kennzeichnet den subjektiven Reisebericht der Kosovo-Erzählung "Die Kuckucke von Velika Hoća" von 2009, sie grundiert die erträumte Familiensage über die Kärntner Slowenen, das Stück "Immer noch Sturm".
Diese Nachdenklichkeit kennzeichnet die große Erzählung "Die morawische Nacht" aus dem Jahre 2008, sie kennzeichnet den subjektiven Reisebericht der Kosovo-Erzählung "Die Kuckucke von Velika Hoća" von 2009, sie grundiert die erträumte Familiensage über die Kärntner Slowenen, das Stück "Immer noch Sturm".
Nur Kriegspropaganda?
Auf den ersten Blick scheint die kurze, nur 37 Seiten umfassende Geschichte des serbischen Fernsehdirektors von den genannten Büchern abzuweichen. Der Ton ist von deutlicher Ironie gekennzeichnet, wenn es um den Tony und den Bill geht, den ehemaligen britischen Premier Tony Blair und den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und ihre Rechtfertigung des NATO-Einsatzes in Ex-Jugoslawien.
Dabei ging es und geht es auch um die Frage, ob das serbische Fernsehen tatsächlich nur Kriegspropaganda betrieben hat oder, wie Handke meint - und er bezieht sich auf seine subjektive Wahrnehmung der gesendeten Bilder 1999 - eben nicht. Denn dass den Bildern von den angerichteten Schäden und den Opfern des NATO-Einsatzes Bilder mit blühenden Landschaften eines unzerstörten Landes entgegengestellt wurden, das will der Erzähler nicht als Propaganda sehen.
Es geht auch hier wieder um eine Beurteilung der medialen Bilder, um deren von Handke so empfundene Einseitigkeit und manipulative Ausrichtung, die er während der Jugoslawien-Kriege heftig angriff. Erst eine objektive Medienanalyse, vorgenommen aus der Distanz einer um Objektivität bemühten Geschichtswissenschaft, wird das klären können. Das heißt: Handkes Erzählung erhebt nicht den Anspruch journalistischer Recherche oder historisch fundierter Urteile. Handke nennt explizit Titel von Büchern, in denen der Fall Milanović in allen Details abgehandelt wird. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn die Erzählung zunehmend visionäre, melancholische, immer aber auch poetisch-ironische Züge annimmt, das schließt sich zumal bei Handke nicht aus.
Dabei ging es und geht es auch um die Frage, ob das serbische Fernsehen tatsächlich nur Kriegspropaganda betrieben hat oder, wie Handke meint - und er bezieht sich auf seine subjektive Wahrnehmung der gesendeten Bilder 1999 - eben nicht. Denn dass den Bildern von den angerichteten Schäden und den Opfern des NATO-Einsatzes Bilder mit blühenden Landschaften eines unzerstörten Landes entgegengestellt wurden, das will der Erzähler nicht als Propaganda sehen.
Es geht auch hier wieder um eine Beurteilung der medialen Bilder, um deren von Handke so empfundene Einseitigkeit und manipulative Ausrichtung, die er während der Jugoslawien-Kriege heftig angriff. Erst eine objektive Medienanalyse, vorgenommen aus der Distanz einer um Objektivität bemühten Geschichtswissenschaft, wird das klären können. Das heißt: Handkes Erzählung erhebt nicht den Anspruch journalistischer Recherche oder historisch fundierter Urteile. Handke nennt explizit Titel von Büchern, in denen der Fall Milanović in allen Details abgehandelt wird. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn die Erzählung zunehmend visionäre, melancholische, immer aber auch poetisch-ironische Züge annimmt, das schließt sich zumal bei Handke nicht aus.
Wie Blätter im Wind
Man muss ganz genau lesen, denn es ist Handkes stupender Erzählkunst zu verdanken, die ein poetisches Bild mit Aussagen verbindet, die einen allgemeinen Wahrheitsanspruch erheben. An einer Stelle wird Klartext gesprochen, wenn es um die serbischen Kriegslügen geht: Der Luftdruck der Bombe, so erzählt es Handke, hat zur Folge gehabt, dass die grünen Studiobänder des Senders im Park um das zerstörte Gebäude an den Birken hängen blieben und wie Trauerfahnen oder tibetanische Gebetstücher im Winde wehten.
Ironische Zukunftsvision
Das Buch schließt mit einer ironischen Vision: Tony Blair und Bill Clinton unterschreiben eine Petition zugunsten des Gefangenen, spenden jeweils das horrende Honorar eines ihrer Vorträge für Milanović' Verteidigung und demonstrieren schließlich Hand in Hand vor dem Gefängnis für die Freilassung des Inhaftierten. Ja, Mister Blair will, "gar zur Orthodoxie konvertieren", sich taufen lassen, "wobei er als Ganzer, samt Kopf und Kragen, unter Wasser getaucht werden soll".
Und dann setzt der Erzähler seiner Vision noch eins drauf, und einen Moment lang, eine Schrecksekunde beim Lesen lang glaubt man, dass es wirklich so ist, dass man etwas verpasst hat in der Entwicklung der Weltgeschichte. Da steht dann, dass im August 2012 eine ultimative Weltfriedenskonferenz in dem verstaubten Ort stattfinden wird, im Schlossgasthaus jener Stadt, in der Dragoljub Milanović im Gefängnis sitzt, und dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Fallgeschichte aufnimmt und Milanović Gerechtigkeit widerfährt.
Das serbische Fernsehen ist inzwischen eines der besten und demokratischsten der Welt und der Kosovo wirbt als albanischer Staat friedlich und gesamteuropäisch für die Qualität seiner Weine.
Das ist ein schönes Märchen, ein versöhnliches, eines, das so nur Peter Handke erzählen kann. Wer ihm daraus einen Strick drehen möchte, wird sich einigermaßen dabei verrenken müssen. Denn es geht ihm nicht darum, einen Fall in all seinen Details zu rekonstruieren, das haben andere getan und sollten es in vielen anderen Fällen tun; sondern es geht darum, und dafür ist die Literatur schließlich da, die Geschichte immer wieder anders zu erzählen. Das tut Peter Handke auch in diesem Büchlein mit einer beeindruckenden Gelassenheit und ironisch gefärbten Melancholie.
Und dann setzt der Erzähler seiner Vision noch eins drauf, und einen Moment lang, eine Schrecksekunde beim Lesen lang glaubt man, dass es wirklich so ist, dass man etwas verpasst hat in der Entwicklung der Weltgeschichte. Da steht dann, dass im August 2012 eine ultimative Weltfriedenskonferenz in dem verstaubten Ort stattfinden wird, im Schlossgasthaus jener Stadt, in der Dragoljub Milanović im Gefängnis sitzt, und dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Fallgeschichte aufnimmt und Milanović Gerechtigkeit widerfährt.
Das serbische Fernsehen ist inzwischen eines der besten und demokratischsten der Welt und der Kosovo wirbt als albanischer Staat friedlich und gesamteuropäisch für die Qualität seiner Weine.
Das ist ein schönes Märchen, ein versöhnliches, eines, das so nur Peter Handke erzählen kann. Wer ihm daraus einen Strick drehen möchte, wird sich einigermaßen dabei verrenken müssen. Denn es geht ihm nicht darum, einen Fall in all seinen Details zu rekonstruieren, das haben andere getan und sollten es in vielen anderen Fällen tun; sondern es geht darum, und dafür ist die Literatur schließlich da, die Geschichte immer wieder anders zu erzählen. Das tut Peter Handke auch in diesem Büchlein mit einer beeindruckenden Gelassenheit und ironisch gefärbten Melancholie.
Text: Bernhard Fetz · 04.09.2011
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Peter Handke, "Die Geschichte des Dragoljub Milanović", Jung und Jung Verlag
Jung und Jung - Peter Handke
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